Die Bibliothek der Schatten Roman
Lichtquelle im Raum war die Lampe auf dem Nachtschränkchen, aber ihr Licht war zu schwach, um die Ecken zu erreichen. Die Temperatur wurde allmählich erträglich, aber es war immer noch warm genug, dass er nicht fror.
Die Tür ging auf, und die Frau in dem weißen Kittel kam
mit einem Tablett herein. Remer folgte ihr mit drei südländisch aussehenden Männern im Schlepptau.
»Es wird höchste Zeit, dass Sie etwas Festes zu sich nehmen, Campelli«, sagte Remer und stellte sich ans Fußende des Bettes. Zwei der Männer bauten sich auf sein Zeichen hin links und rechts vom Bett auf, während der dritte vor der Tür stehen blieb. Auf ein weiteres Zeichen von Remer lösten sie die Riemen um Jons Arme. Die Frau stellte ihm das Tablett auf die Beine.
Jon merkte, dass er Hunger hatte, zögerte aber, mit dem Essen anzufangen. Er sah die Wächter, die einen Schritt vom Bett entfernt standen und vor sich hin starrten.
»Sie verstehen kein Dänisch«, erklärte Remer. »Und selbst wenn, sie sind loyal dem Orden gegenüber.« Er nickte, den Blick auf die Schale mit Reis und Fleisch gerichtet, die auf dem Tablett stand. »Essen Sie, dann erzähle ich Ihnen danach eine Gutenachtgeschichte.«
In Ermangelung eines Bestecks begann Jon, mit den Fingern zu essen. Anfangs war er noch zurückhaltend und richtete die Aufmerksamkeit auf jeden Bissen, aber das würzige Lamm und der Reis schmeckten so unerwartet gut, dass er bald begann, sich das Essen gierig in den Mund zu schaufeln.
»Die Fähigkeiten, die Sie besitzen, kennen keine Landesgrenzen«, begann Remer und nickte der Frau zu, die gleich darauf den Raum verließ. »Das haben Sie sich sicher schon gedacht. Menschen wie Sie und mich gibt es überall auf der Welt, aber jeder Text hat natürlich eine gewisse Begrenzung in der Sprache. Ich bezweifle keine Sekunde, dass Sie nicht auch ausgezeichnete Arbeit mit einem englischen Text leisten könnten, möglicherweise auch mit einem italienischen, aber die größte Wirkung erzielen Sie nichtsdestoweniger mit Ihrer Muttersprache. Um einen Text aufzuladen, brauchen wir die Sprache, und je besser wir sie beherrschen, desto sicherer erreichen wir unser Ziel.«
Die Frau kam mit einem hohen Hocker zurück, den sie hinter Remer stellte, bevor sie wortlos wieder ging. Er setzte sich und richtete sein Jackett, ehe er fortfuhr.
»Bei den Empfängern sieht es etwas anders aus. Sie können ihre Fähigkeiten auch dann anwenden, wenn der gelesene Text für sie unverständlich ist. Die Emotionen und Bilder, die ein Text hervorbringt, sind universell und sprachunabhängig, nur die Feinjustierung der Beeinflussung setzt die Kenntnis der Sprache voraus.«
»Dann haben Sie mich also nach Ägypten entführt, um meine Fähigkeiten einzudämmen?«, fragte Jon zwischen zwei Bissen.
Remer lachte.
»Ganz im Gegenteil«, antwortete er. »Ihre physischen Entladungen sind nicht davon abhängig, ob der Zuhörer den Text versteht oder nicht.« Er fasste sich ans Kinn. »Ein äußerst interessantes Phänomen und mit nichts vergleichbar. Wir glauben nämlich, dass der gelesene Text keine andere Funktion hat als die eines Katalysators.« Er schüttelte den Kopf. »Aber das gehört zu den Dingen, die wir im Laufe der nächsten Tage herausfinden wollen.«
Jon schnaufte.
»Zum anderen«, fuhr Remer fort, ohne auf Jons Reaktion einzugehen, »war Alexandria schon immer ein Zentrum unserer Organisation.«
»Alexandria?«, fragte Jon. Er überlegte, aber ihm fiel nur ein, dass es eine Stadt an der nordafrikanischen Küste war.
Remer nickte.
»Unsere Organisation hat in Alexandria ihren Ursprung«, erklärte er. »Laut Überlieferung wurden die Fähigkeiten, die Sie und ich besitzen, hier zum ersten Mal entdeckt.«
Jon hatte seine Mahlzeit beendet und schob das Tablett beiseite, das sofort von einem der Wächter abgeräumt wurde,
während der andere ihm ein Glas Wasser hinhielt. Jon nahm es und trank.
Remer wartete geduldig, bis er fertig war, und nickte dann den Wächtern zu. Sie schnallten seine Arme wieder am Bettgestell fest und verließen wortlos den Raum. Sobald sie weg waren, klatschte Remer in die Hände und rieb sie mit erwartungsvoller Miene.
»Na, Campelli«, sagte er. »Bereit für die Geschichtsstunde?«
Jon sparte sich die Antwort. Er hatte ohnehin keine andere Wahl.
»Alexandria wurde um 330 vor Christus von Alexander dem Großen gegründet«, begann Remer. »Die Stadt sollte das Weltzentrum für Wissen und Lehre werden. Darum wurde die wohl
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