Die Bibliothek der Schatten Roman
und trank einen Schluck Tee. Bei dem Test im Keller unter der Schule hatte auf Grund der isolierten Zelle niemand Einfluss auf ihn ausüben können, selbst wenn er rechtzeitig eingegriffen hätte.
»Unser Ziel ist es, das richtige Maß zu finden«, erklärte Poul Holt. »Gerade so stark, dass die physischen Entladungen sich manifestieren können, aber nicht so stark, dass sie Schaden anrichten. Wir werden Sie mit Elektroden ausrüsten, damit wir den Verlauf verfolgen können.«
Als wäre das ihr Stichwort gewesen, schob die Frau mit dem weißen Kittel einen Rolltisch ins Zimmer. Darauf lag ein ähnlicher Helm wie der in der Schule, der über diverse Kabel mit einem Computer verbunden war.
Jon beendete seine Mahlzeit und setzte sich zurecht. Er lächelte die Frau an, als sie ihm den Helm aufsetzte und kontrollierte, ob er fest saß. Fest entschlossen, sein Bestes zu geben, machte er die Augen zu und konzentrierte sich. Er wollte sie nicht noch einmal enttäuschen. Dies war die Gelegenheit zu beweisen, dass er zum Orden gehörte.
»Fangen Sie an, wenn Sie sich bereit fühlen«, sagte Poul Holt, der vor dem Computerbildschirm Platz genommen hatte.
Jon öffnete die Augen und nahm das Buch. Es vibrierte fast
unmerklich zwischen seinen Händen. Er schlug es auf und begann zu lesen. Begierig, seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, begann er bereits nach wenigen Sätzen mit der Beeinflussung.
Wie bei der Lesung in der Schule merkte er, wie sich die Umgebung langsam verwandelte und sich der Szene im Buch anpasste, die er las. Die weißen Wände öffneten sich zu der Schneelandschaft, die er beschrieb, und das Bett, in dem er lag, wurde zu einem Pferdeschlitten. Auf beiden Seiten des Weges wuchsen Bäume, und die Schneeflocken wirbelten immer dichter um den Schlitten. Der Film, der sich vor seinem inneren Auge abspielte, lief in Zeitlupe, so dass er mit jedem gelesenen Satz so detaillierte Bilder hervorrufen konnte, wie es ihm gefiel. Die kleinste Schneeflocke unterlag seiner Kontrolle.
Jon machte die Schlittenfahrt zu einer finsteren und tristen Reise, in der sich die Kälte wie ein Eisschleier über die Landschaft legte. Am Waldrand tummelten sich bedrohliche Schatten, aber bei der Geschwindigkeit des Schlittens war es unmöglich zu erkennen, ob es sich um Tiere, Menschen oder pure Fantasiegestalten handelte.
Jon spürte die ganze Zeit die Anwesenheit des Empfängers, empfand sie aber nicht als störend oder kontrollierend, sondern als Unterstützung, als ob ihm jemand eine Hand auf die Schulter legte.
Nach einer, wie es ihm vorkam, unendlichen Reise erreichte der Protagonist ein kleines Gasthaus. Eine einfache Holztür führte in eine Schankstube, und das Grauweiß der kalten Winterlandschaft wechselte zu goldenen Tönen im Schein des Kaminfeuers und der Petroleumlampen auf den Tischen. Die Gäste in der Schankstube betrachteten die Ankömmlinge misstrauisch. Einige Gesichter lagen im Schatten, andere leuchteten rot im Lichtschein und strahlten ungastliche Arroganz aus. Jon lud die Atmosphäre zu einem klaustrophobischen Albtraum auf, in dem sich die Fratzen der Anwesenden
den Ankömmlingen mit gefletschten gelben Zähnen, tiefen Narben und Falten entgegenstreckten.
Die Hand auf seiner Schulter drückte zu, worauf ein kurzer Lichtblitz die Szene erhellte. Die Bilder sprangen ruckartig vorwärts wie bei einem Film, der sich verhakt hat.
Jon unterbrach die Lesung und senkte das Buch.
»Wirklich sehr gut«, sagte Poul Holt mit einem anerkennenden Nicken. Er war beeindruckt. »Wir mussten Sie nur unterbrechen, weil es zu heftig zu werden drohte.«
Jon nickte. Er merkte, dass er sich angestrengt hatte, aber die Freude darüber, gute Arbeit geleistet zu haben, überwog die verlorene Energie. Ein behagliches Summen durchströmte seinen Körper, nicht unähnlich dem Summen, das er von dem Buch auffing, und er entdeckte, dass seine Arme von Gänsehaut bedeckt waren. Er legte das Buch weg und rieb sich die Arme.
»Wer hat mich unterbrochen?«, fragte er. Außer ihm und Holt war niemand im Zimmer.
»Ein Empfänger im Nachbarraum«, antwortete Poul Holt. »Sie müssen lernen, die Signale von Empfängern zu erkennen, damit Sie wissen, ob Sie die Stärke steigern oder vermindern sollen. In diesem Fall haben Sie das Signal genau richtig interpretiert.«
Er erhob sich und half Jon, den Helm abzunehmen.
»Wie sind die Messungen gelaufen?«, erkundigte sich Jon mit einem Nicken zum Computer.
»Ausgezeichnet«,
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