Die Bibliothek der Schatten Roman
Vorabend hatte er außer ein paar beleuchteten Fenstern nichts von der Umgebung sehen können. Ganz davon abgesehen war er viel zu erschöpft und mit seinen neuen Erkenntnissen beschäftigt gewesen, um auf die Details der Landschaft zu achten.
Poul Holt, den Jon nun als seinen Guide bezeichnete, hatte am Abend zuvor drei Stunden an seinem Bett gesessen und ihm vorgelesen. Jon empfand so etwas wie Scham, wenn er daran dachte. Er war ignorant und dumm gewesen, zu stolz, der Wahrheit ins Auge zu sehen, und zu feige, mit seiner Vergangenheit abzurechnen und sich seinem Schicksal zu öffnen. Das hatte sich jedoch im Laufe von drei Stunden geändert. In diesen drei Stunden war ihm, dank Remer und Poul Holt, klar geworden, dass er endlich den Punkt erreicht hatte, an dem er sein Potenzial voll ausschöpfen konnte.
Anfangs hatte er noch dagegen angekämpft und das Buch als seinen Feind betrachtet. Als Poul Holt zu lesen begann, hatte Jon alles getan, um seine Aufmerksamkeit abzulenken und sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Holt las unverdrossen weiter, und irgendwann musste Jon ihm einfach zuhören. Es ging um die Entstehungsgeschichte des Ordens und seine Leistungen im Laufe der Jahre. Das in Leder gebundene Buch war eine Chronik des Order of Enlightment oder des Ordens der Erleuchtung , wie die Schattenorganisation wirklich hieß. Er musste über seine eigene Naivität lächeln. Dieser Orden warf keine Schatten.
Poul Holt ließ keinen Zweifel daran, dass er ein geschickter Sender war. Er hatte seine Fähigkeiten ab dem ersten gelesenen Wort angewendet, und Jon war im Nachhinein bewusst, dass das auch nötig war, schließlich war er so fest in seiner eigenen Weltsicht verhaftet gewesen, dass nur eine sehr intensive Einflussnahme ihm dort heraushelfen konnte.
Poul Holt unterbrach die Lesung dreimal, um den Klebestreifen vor Jons Mund zu entfernen und ihm etwas zu trinken zu geben. Dabei erkundigte er sich jedes Mal nach Jons Befinden: Ob er Kopfschmerzen habe, übermäßigen Druck an der hinteren Schädelwand spüre oder Sterne sehe. Bei der dritten Unterbrechung hatte Jon kein Wasser getrunken, um die Lesung nicht unnötig lange zu unterbrechen, er wollte wissen,
wie es mit der fantastischen Geschichte des Ordens weiterging. Der Klebestreifen konnte weggelassen werden, und als Poul Holt entschied, die Lesung zu beenden, band man Jon die Hände los, so dass er sich wieder frei bewegen konnte.
Remer hatte sich nach einer Weile zu ihm gesetzt und war wohl geblieben, bis Jon eingeschlafen war. Er fühlte sich so sicher wie schon lange nicht mehr, eigentlich seit … Jon schob den Gedanken mit einer verärgerten Grimasse beiseite. Er war von den Menschen, die er liebte und denen er vertraut hatte, betrogen worden, das wusste er inzwischen. Er musste sein bisheriges Leben hinter sich lassen und sich auf seine Zukunft konzentrieren.
Es klopfte an der Tür. Jon drehte sich um.
»Herein«, rief er munter.
Poul Holt kam mit einem Frühstückstablett herein, auf dem Brot und Tee angerichtet waren. Daneben lag ein in schwarzes Leder eingebundenes Buch.
»Guten Appetit«, sagte Poul Holt lächelnd, als er das Essen abstellte.
Jon setzte sich aufs Bett, stellte das Tablett auf seine Oberschenkel und begann zu essen.
»Was lesen wir heute?«, fragte er mit vollem Mund, den Blick auf das schwarze Buch gerichtet.
»Heute sind Sie mit dem Lesen dran«, antwortete Poul Holt mit erwartungsvollem Blick.
Jon hörte auf zu kauen und musterte das Gesicht seines Guides.
»Sicher?«, fragte er und schluckte den Bissen hinunter. »Beim letzten Mal …«
Remer hatte ihm erzählt, dass Kortmanns Chauffeur bei der Lesung im Keller der Schule ums Leben gekommen war. Er war der wahre Held des Ordens gewesen, hatte er doch Kortmann acht Jahre beaufsichtigt und so verhindert, dass ihr Geheimnis aufgedeckt wurde. So lasch, wie Kortmann und
Clara die Gesellschaft geführt hatten, wäre es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis die Fähigkeiten öffentlich bekannt geworden wären. Sie waren schwach. Und was noch schlimmer war, sie setzten ihre Ehre darein, die Fähigkeiten breit gefächert einzusetzen, auf Kosten der Effektivität und zu niemandes Nutzen, während der Orden es vorzog, kontrollierte Aktionen an einzelnen Personen auszuführen, dafür aber mit voller Kraft und maximalem Gewinn.
»Forcieren Sie nichts«, sagte Poul Holt ruhig. »Ansonsten sitzt draußen einer unserer Empfänger, um gegebenenfalls einzugreifen.«
Jon nickte
Weitere Kostenlose Bücher