Die Bibliothek der Schatten Roman
als könnte er so die Unsicherheit loswerden, die sich in seinem Bewusstsein eingenistet hatte.
»Alles in Ordnung?«, fragte Remer vom Vordersitz.
Nachdem er Poul Holt und den Rothaarigen hinter Katherina hergeschickt hatte, war er mit Jon zurück zum Wagen gelaufen. Unterwegs hatten sie Katherina vom Markt weglaufen sehen. Und auch Katherina hatte sie gesehen. Einen kurzen Augenblick war sie in der glühenden Mittagshitze erstarrt und hatte Jon ein letztes Mal angesehen, ehe sie in einer Seitengasse verschwand.
»Mir geht’s gut«, sagte Jon abweisend.
Er spürte Remers Blick, der ihn über den Rückspiegel ansah. Jon saß hinten und starrte auf die Stadt, die an ihnen vorüberglitt. Wie viele Menschen hier unterwegs waren. Erstaunlich, dass er da ausgerechnet Katherina getroffen hatte. Hatte sie ihn etwa beschattet? Hatte sie geplant, ihn zu überrumpeln, indem sie sich auf dem Markt zeigte? Das wollte Jon nicht glauben. Dafür hatte ihre Überraschung zu echt gewirkt.
Remer war direkt losgefahren, ohne auf Poul Holt und den Rothaarigen zu warten, als befände Jon sich in Lebensgefahr. Der fand seine Reaktion etwas übertrieben. Was konnte Katherina
schon gegen ihn ausrichten? Andererseits beruhigte es ihn zu wissen, dass der Orden schützend hinter ihm stand. Es gab ihm ein Gefühl von Wichtigkeit - aber auch Ohnmacht, als käme er nicht allein zurecht.
Er bekam Katherinas Gesichtsausdruck nicht aus dem Kopf. Irgendetwas war in ihm ausgelöst worden, als ihre Blicke sich trafen. Wie ein Faustschlag auf den Solarplexus, der ihm den Atem nahm. Möglicherweise war sie doch gefährlicher, als er dachte.
»Wie hat sie es geschafft, uns aufzuspüren?«, fragte er, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden.
»Zufall«, meinte Remer. »Aber wer weiß, vielleicht haben sie ja Spione in Ägypten.«
Jon zog die Augenbrauen hoch. Irgendetwas stimmte hier nicht. Remer hatte die ganze Zeit behauptet, die Gemeinschaft im Libri di Luca wäre ein Haufen unorganisierter Fantasten, die durch ihren nachlässigen Umgang mit ihren Fähigkeiten alle anderen Lettori in Gefahr brachten. Und jetzt sollten sie plötzlich ein Netzwerk haben, das Kontinente umspannte.
»Kein Grund zur Sorge«, sagte Remer. »Wir sind bald in Sicherheit.«
Wieso sollte Jon sich Sorgen machen? Er betrachtete Remer im Rückspiegel. Er schien eindeutig beunruhigter zu sein als Jon. Der Fahrer musterte Jon in regelmäßigen Abständen im Spiegel und raste mit viel zu hoher Geschwindigkeit durch die Stadt.
Als sie die Stadtgrenze erreichten, wusste Jon, dass es nicht mehr weit bis zu dem Landhaus war, in dem sie untergebracht waren.
»Haben wir es eilig?«, fragte Jon und beobachtete Remers Reaktion im Spiegel.
»Nein, eigentlich nicht«, antwortete Remer mit einem weiteren ruhigen Blick auf Jon. »Aber es wäre günstig, wenn Sie vor heute Abend noch ein wenig ausruhen könnten.« Er lächelte
breit. »Heute Abend besuchen wir die Bibliothek«, sagte er stolz. »Es ist wichtig, dass Sie vorbereitet sind.«
Jon nickte. Dass dieser Tag irgendwie besonders war, hatte er auch schon mitbekommen. Zuerst der Ausflug nach Alexandria und dann die erwartungsvolle Stimmung, die den Tag geprägt hatte. Bis Katherina auftauchte und alles zerstörte. Er hatte diesem Tag entgegengefiebert, an dem er endlich seinen Beitrag für den Orden leisten konnte. Der Feuereifer war jetzt allerdings ein wenig gedämpft. Er vermutete, dass er an einer Art Initiationsritus teilnehmen sollte, war sich plötzlich aber nicht mehr sicher, in was er tatsächlich eingeweiht werden sollte.
Als sie auf die Einfahrt des Landhauses bogen, traten mehrere Personen aus dem Haus. Remer sprach Arabisch mit ihnen, während Jon nach der rasanten Autofahrt die Glieder streckte.
»Kommen Sie, gehen wir hinein«, schlug Remer vor und komplimentierte Jon vor sich her ins Haus.
Sie gingen direkt in Jons Zimmer, wo er auf seinem Bett Platz nahm. Er war tatsächlich müde und freute sich aufs Alleinsein. Er musste noch immer an Katherina denken und zog es vor, das Thema ganz allein abzuschließen.
Einer der Wachen brachte Remer die Chronik.
»Und, wollen wir weitermachen?«, fragte Remer und setzte sich in den Sessel neben dem Bett.
Der Wachmann war im Raum geblieben und hatte sich neben der Tür aufgebaut. Remer sah Jon gespannt an, als erwarte er eine Gutenachtgeschichte.
»Ehrlich gesagt wäre es mir später lieber«, sagte Jon. »Ich wäre jetzt gern ein wenig alleine.«
Remers Lächeln
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