Die Bibliothek der Schatten Roman
Katherina sich vom Bett und ging in das kleine Badezimmer. Sie wusch sich das Gesicht und band die roten Haare zu einem Knoten auf dem Kopf zusammen. Dann verließ sie ihr Zimmer.
Im Vestibül warteten Muhammed und Henning. Letzterer war noch immer leichenblass, aber er lächelte, als er Katherina erblickte.
Muhammed, der sich wieder seinen Turban um den Kopf gewickelt hatte, führte sie durch die jetzt menschenleeren Gassen. Erst als sie in die unterhalb liegenden Stadtviertel gelangten und sich dem Hafen näherten, war etwas mehr Leben auf den Straßen. Auch die Souvenirshops waren hier noch geöffnet.
Die Gebäude rings um das Hotel Seaview waren so hoch, dass man beim Anblick des Hotels glauben konnte, es wäre im Schatten verkümmert. Die Fassade war in einem miserablen Zustand, der Putz blätterte in großen Stücken ab, und die Farbe der Fensterläden war verblichen. Es war durchaus möglich, dass man vom Hotel Seaview aus früher einmal das Meer gesehen hatte, doch das musste lange zurückliegen. Nur das beleuchtete Schild und eine geöffnete Flügeltür deuteten an, dass das Hotel noch immer geöffnet war.
Die Rezeption bot einen kunterbunten Stilmix. Die Böden waren aus Marmor, die Wände hingegen mit den unterschiedlichsten Materialien verkleidet. Tapete folgte auf Stücke mit Holzvertäfelung und Abschnitte mit einem dicken Veloursstoff, der in Fetzen von der Wand hing. Der Empfangstresen war aus dunklem, spiegelblankem Holz, auf dem eine hochglanzpolierte Messingglocke stand. An der Wand hinter dem Tresen hing ein goldgerahmter Spiegel, vor dem die Zimmerschlüssel hingen.
Der Empfang war nicht besetzt, so dass sie unbeobachtet über die Treppe, die mit einem dicken roten Teppich belegt war, nach oben gehen konnten. An den Wänden hingen zahlreiche Gemälde in schwülstigen Goldrahmen, deren Motive von gewagten Kamasutra-Darstellungen bis hin zu amateurhaften Stadt- und Hotelansichten reichten.
Erst als sie in den zweiten Stock kamen, wagten sie wieder zu sprechen.
»205«, sagte Muhammed und deutete den Flur hinunter, der auf dieser Etage weiße Wände und einen rosafarbenen Marmorboden hatte.
»Seid ihr sicher, dass er da ist?«, flüsterte Katherina skeptisch.
»Nessim hat gesagt, Paw würde jetzt für etwa eine Stunde auf seinem Zimmer sein«, antwortete Muhammed leise.
»Wie kann er sich da so sicher sein?«
»Er kennt den Portier. Die scheinen sich alle irgendwie zu kennen. Auf jeden Fall hat er erfahren, dass zehn ihrer Gäste in einer Stunde von einem Minibus abgeholt werden.«
Katherina war von dem Plan nicht begeistert. Sie fand es reichlich optimistisch, einfach in ein Hotel voller Lettori zu spazieren und ein Verhör abzuhalten und zu glauben, dass man dabei nicht bemerkt werden würde.
»Und wie wollt ihr verhindern, dass er abhaut?«, flüsterte Katherina. Muhammed schob seine Hand unter sein Gewand und holte eine Pistole hervor.
»Das ist eine Attrappe«, versicherte er, als er ihren entsetzten Gesichtsausdruck wahrnahm. »Ich will ihn nur ein bisschen einschüchtern.« Muhammed lächelte. »Aber sie sieht wirklich wie eine McCoy aus, stimmt’s?«
Katherina und Henning bauten sich rechts und links vor der Tür zu Zimmer 205 auf, als Muhammed anklopfte. Er verbarg die Pistole in der Hand hinter seinem Rücken.
»Was ist?«, kam es aus dem Zimmer. Es war ohne Zweifel Paws Stimme.
»Bist du so weit?«, fragte Muhammed mit leicht verstellter Stimme.
Hinter der Tür hörten sie Schritte.
»So weit? Wieso?«
Der Schlüssel wurde im Schloss herumgedreht, und die Tür öffnete sich.
Vor ihnen stand Paw. Er trug einen langen, cremefarbenen Umhang mit schwarzer Borte und einem Schlangenmotiv auf Armen und Schleppe. Das Erste, was er sah, war Muhammed in komplett arabischer Montur. Paw starrte den Mann verblüfft von Kopf bis Fuß an.
»Wer zum Teufel sind Sie?«, fragte er wütend, doch im gleichen Moment zückte Muhammed die Waffe und richtete sie auf Paws Stirn. Der wich entsetzt zurück, dicht gefolgt von Muhammed. Katherina und Henning traten hinter ihm in den Raum.
»Ihr!«, platzte Paw hervor, als er sie sah. »Scheiße!«
SECHSUNDDREISSIG
I rgendetwas in Katherinas Blick hatte Jon beunruhigt. Ihre grünen Augen hatten solche Erleichterung und unendliche Wärme ausgestrahlt. Glaubte sie etwa, mit dieser Masche durchzukommen? Wenn er es nicht besser wüsste, hätte er wirklich gedacht, dass das Liebe in ihrem Blick gewesen war. Liebe zu ihm. Er schüttelte den Kopf,
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