Die Bibliothek der Schatten Roman
0,7, ein sehr bescheidenes Niveau verglichen mit den übrigen Mitgliedern, bei denen es in der Regel zehnmal höher lag. Es war ziemlich kränkend, dass eine so weit unten rangierende Person in der Lage gewesen war, sie monatelang an der Nase herumzuführen.
»Könnten wir ihn irgendwie nutzen?«, fragte Katherina und wandte sich an Henning.
»Als Geisel?« Henning schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Er hat seine Rolle zu Ende gespielt. Nach der Neutralisierung von Luca und Jon ist er für sie bedeutungslos.«
»Aber vielleicht kann er uns zumindest verraten, was sie vorhaben«, schlug Katherina vor.
»Sollen wir ihn zwingen?« Muhammed verzog den Mund zu einem Grinsen.
»Wir könnten sie mit ihren eigenen Waffen schlagen«, deutete Katherina an. »Henning könnte für ihn lesen.«
Sie wusste nicht, wie stark Hennings Fähigkeiten als Lettore waren. Bis zu diesem Zeitpunkt war er ihnen noch keine große Hilfe gewesen. Bereits am ersten Tag hatte er sich krankgemeldet und nicht an der Suche beteiligt. Vielleicht war er nicht einmal in der Lage, richtig zu lesen.
»Ich könnte Nessim bestimmt dazu bringen, Paws Zimmernummer für mich herauszufinden«, sagte Muhammed.
»Nessim?«
»Der Portier«, antwortete Muhammed. »Ich habe das Gefühl, er hat ein gutes Netzwerk in der Stadt. Seit er weiß, dass wir Freunde von Luca sind, kennt seine Hilfsbereitschaft keine Grenzen.«
Vor ihrer Abreise hatte Muhammed so viele Informationen wie nur möglich über Lucas Reise zusammengetragen. Unter anderem hatte er erfahren, dass Luca in dem Hotel gewohnt hatte, in dem auch sie jetzt abgestiegen waren. Ansonsten hatte Luca wenig Spuren hinterlassen. Seine Kreditkarte war an einigen Stellen der Stadt genutzt worden, unter anderem in der Bibliotheca Alexandrina, doch mehr hatte er nicht herausfinden können.
»Konnte Nessim etwas über Luca sagen?«, fragte Katherina.
»Nein«, antwortete Muhammed. »Nur dass sie über die Hitze, die Bibliothek und andere Kleinigkeiten gesprochen hatten. Er beschrieb Luca als einen freundlichen Mann, der reichlich Trinkgeld gab.«
Muhammed trat an die Tür.
»Ich setze ihn gleich darauf an.«
Als er das Zimmer verlassen hatte, ließ sich Katherina aufs Bett fallen. Seit der Übernachtung bei Clara hatte sie sich nicht mehr viel Schlaf gegönnt. Erst wenn sie vor Müdigkeit beinahe umkippte, kapitulierte sie und gönnte sich ein
paar Stunden Schlaf. Doch auch dann schlief sie unruhig und wachte meist schweißgebadet und wenig erholt auf, ohne wieder einschlafen zu können. Die Begegnung mit Jon verunsicherte sie noch mehr. Sie spürte, dass es zu spät sein könnte, wenn sie ihn nicht bald fanden.
Sie zuckte zusammen, als das Telefon klingelte.
»Es dauert wohl ein paar Stunden, bis Nessim Paws Zimmernummer hat«, sagte Muhammed am anderen Ende. »Versuch ein bisschen zu schlafen. Und Henning auch.«
Katherina akzeptierte Muhammeds Vorschlag widerstrebend und legte auf. Henning schien jedoch erleichtert, wieder in sein Zimmer gehen zu können.
Katherina war unendlich froh darüber, dass Muhammed bei ihr war. Er hatte sich als perfekter Guide erwiesen, der sich rasch in der Stadt zurechtfand und blitzschnell Kontakt zu den Einheimischen bekam. Vermutlich lag es an seiner Hautfarbe, sie und Henning wurden beinahe nie in Ruhe gelassen.
Henning und Katherina hatten sich gleich am ersten Tag, noch vor Hennings Unpässlichkeit, die Bibliothek angesehen, doch Katherina war viel zu aufgewühlt gewesen, um das beeindruckende Gebäude bestaunen zu können. Henning hingegen reagierte enthusiastisch auf den imponierenden Bau, und als sie den großen Lesesaal unter dem Glasdach betraten, kannte seine Faszination keine Grenzen mehr.
Die Energie, die in der Luft lag, war physisch spürbar. Katherina stellten sich die Nackenhaare auf. Es war dasselbe prickelnde Gefühl wie im Keller des Libri di Luca, nur zigmal stärker.
Henning ließ sich davon aber nicht stoppen. Seine Fragen über die Geschichte und die heutigen Aktivitäten und Aufgaben der Bibliothek nahmen kein Ende, und seine Augen strahlten wie die eines Frischverliebten.
Katherina drehte sich auf die Seite und schloss die Augen. Paw war jetzt ihr letzter Ausweg, dabei konnte sie im Augenblick nichts anders tun als warten.
Sie musste doch fest eingeschlafen sein, denn als das Klingeln des Hoteltelefons sie weckte, ging bereits die Sonne unter.
»Muhammed speaking. Wir warten in der Halle auf dich.«
Etwas groggy erhob
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