Die Bibliothek der Schatten Roman
mitgebrachten Strick gefesselt, während Katherina mit der Pistolenattrappe auf Paw zielte, der ihnen hasserfüllte Blicke zuwarf und Gift und Galle spuckte.
»Willst du zum Karneval?«, fragte Muhammed und hielt den weißen Umhang hoch, den Paw getragen hatte.
»Du musst gerade reden«, schnaubte Paw verächtlich.
Muhammed ignorierte ihn.
»Und was ist das?« Er hielt Paw das Kupferamulett vor die Nase, das er um den Hals getragen hatte. »Ist das deine VIP-Eintrittskarte?«
Paw antwortete nicht, sondern starrte Muhammed nur böse an.
»Gehen wir mal davon aus, dass es so ist«, sagte Muhammed und reichte das Amulett an Katherina weiter. »Stellt sich nur noch die Frage, zu welcher Veranstaltung?« Er sah Paw abwartend an, doch der drehte demonstrativ den Kopf weg.
Katherina sah sich das Kupferamulett genauer an. Es war rund, in der Größe einer Fünfkronenmünze, und hatte in der Mitte ein Loch, durch das eine Lederschnur gezogen war. Der Rand war rundherum mit kleinen, filigranen Schriftzeichen verziert.
»Was hast du davon?«, fragte Henning. »Du bist doch bereits aktiviert.«
Paw grinste.
»Eine Wahnsinnsaktivierung«, fügte Henning höhnisch hinzu. »Wie hoch war noch gleich dein RL-Faktor? Null Komma sieben? Das reicht wahrscheinlich nicht einmal, um eine Fahrradbirne zum Glühen zu bringen.«
Paws Grinsen verschwand, und er starrte Henning an. Katherina konnte sehen, wie er vor Wut die Zähne zusammenbiss.
»Wie gut für dich, dass du unter dem Schutz der Organisation stehst«, fuhr Henning fort. »Schwache Lettori wie du müssen aufpassen. Bist du ihnen überhaupt zu irgendwas nutze?«
Paws Augen funkelten zornig, seine Wangen waren glutrot vor Empörung.
»Ja, du hast es geschafft, dich ins Libri di Luca einzuschleusen, aber nur, weil Luca Mitleid mit dir hatte. Er hat dir aus zehn Kilometern Entfernung angesehen, wie schwach du bist.«
»Halt’s Maul«, bellte Paw und warf sich auf dem Stuhl nach vorn, so weit seine Fessel es zuließ.
Henning beugte sich zu ihm vor, gerade so weit, dass Paw ihn nicht erreichen konnte.
»Und, was jetzt? Deine Aufgabe ist erfüllt. Was für einen Nutzen hat die Schattenorganisation jetzt noch von einem Schwächling wie dir?«
»Komm nach der Reaktivierung wieder, dann werde ich es dir zeigen«, platzte es aus Paw heraus.
Henning und Katherina sahen sich an.
»Eine Reaktivierung?«, wiederholte Henning. »Die soll heute Abend also stattfinden?«
Paw antwortete nicht.
»Ihr habt eine Möglichkeit gefunden, eine Aktivierung zu wiederholen?«, fragte Henning skeptisch. »Um sie zu verstärken?«
Paws Lippen formten die Andeutung eines Lächelns.
Katherina spürte, dass sie auf dem richtigen Weg waren. Fast alle Personen, die eingeflogen worden waren, waren laut der Unterlagen aus der Schule bereits aktiviert. Die ganze Inszenierung des Treffens an diesem besonderen Ort wies auf etwas Größeres hin als nur eine rituelle Zeremonie ohne praktische Bedeutung. Sie hielt die Luft an. Wenn eine Reaktivierung die Fähigkeiten eines Lettore verstärkte, was würde dann mit Jon geschehen? Er sprengte bereits jetzt jede Messskala und war lebensgefährlich, wenn er nicht unter Kontrolle gehalten wurde. Sie sah, dass die anderen ähnliche Gedanken hatten. Muhammed und Henning tauschten besorgte Blicke.
»Wie viel stärker kann er werden?«, fragte Henning schließlich.
»Genug, um eine Fahrradbirne zum Leuchten zu bringen«, gab Paw von sich und lächelte geheimnisvoll.
»Schade nur, dass du das nicht miterleben wirst«, fuhr Katherina ihm ins Wort und blickte auf die Stricke. »Es wird schwierig für dich sein, an der Reaktivierung teilzunehmen, solange du an diesen Stuhl gefesselt bist.«
Paw sah sie an. Unsicherheit hatte sich in seinen Blick geschlichen.
»Sie holen mich ab«, sagte er. »Sie müssen jeden Augenblick hier sein.«
Muhammed schaute auf seine Armbanduhr.
»Frühestens in einer halben Stunde«, stellte er fest. »Genügend Zeit, um dich von hier wegzuschaffen.«
Paw lachte nervös.
»Wir haben Freunde in der Stadt«, fuhr Muhammed fort. »Was glaubst du, wie wir dich sonst gefunden hätten? Diese Leute verstehen sich meisterlich darauf, Dinge zu finden und wieder verschwinden zu lassen.«
Paw sah sie der Reihe nach an, fand aber keine Unterstützung. Zuletzt warf er Katherina einen flehenden Blick zu.
»Lass mich gehen, Kat«, sagte er verzweifelt. »Ich muss dorthin. Das ist meine Belohnung.«
»Für was?«, fragte
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