Die Bibliothek der Schatten Roman
nettes Treffen bibliophiler Menschen handelte. Es stand viel auf dem Spiel, wenn es nicht gar um Leben und Tod ging. Auf jeden Fall um Jons Leben.
Katherina holte tief Luft und drückte die erste Glastür auf. Sie wurde von einem lächelnden Wachmann empfangen, der sie auf Englisch willkommen hieß. Er sah sie erwartungsvoll an. Ihr Herz hämmerte noch schneller. Hatte er sie durchschaut? Erwartete er vielleicht ein Codewort von ihr? Hatte er bemerkt, dass der Umhang viel zu lang für sie war?
Der Wachmann klopfte sich auf die Brust und deutete auf Katherinas Hals.
Das Amulett.
Katherina blickte an sich hinab und stellte fest, dass das Amulett unter den Umhang gerutscht war. Erleichtert holte sie es hervor und murmelte eine Entschuldigung. Der Wachmann lächelte nur noch breiter und zeigte mit der Hand auf die nächste Tür.
Sie ging schnell weiter und schob die Glastür zur Vorhalle auf.
Bei ihrem letzten Besuch hatte es in diesem Saal von lärmenden Touristen in Freizeitkleidern gewimmelt, die unablässig knipsten, jetzt standen mehrere Hundert identisch gekleidete Menschen plaudernd herum, als wären sie auf einem Empfang. Wie sollte sie Jon unter all diesen Menschen finden?
Zwei Reihen Stumpenkerzen in schmiedeeisernen Ständern führten in den Lesesaal. Katherina bewegte sich darauf zu und stellte sich so dicht neben eine Gruppe Teilnehmer, dass sie zu ihnen zu gehören schien, ohne jedoch ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Der Sprache nach zu urteilen, handelte es sich um Franzosen.
Es waren Menschen verschiedenster ethnischer Herkunft versammelt, von denen etwa die Hälfte Kapuzen trug. Als sie die schwarzen Bücher bemerkte, die einige der Anwesenden in der Hand hielten, fürchtete sie einen Augenblick lang, diese Bücher könnten für den Zutritt zur Zeremonie wichtig sein. Sie beruhigte sich aber schnell wieder, als sie bemerkte, dass der Großteil der Teilnehmer kein Buch hatte. Im Übrigen benutzten Empfänger bei einer Aktivierung keine Bücher.
Etwas entfernt stand eine größere Gruppe, die von den anderen aufmerksam beobachtet wurde, und nach mehrmaligem Hinsehen verstand sie auch, warum. Eine Person dieser Gruppe trug keinen weißen, sondern einen schwarzen Umhang. Die Person war so von den anderen umringt, dass Katherina nur eine Schulter, einen Arm und ein Stück des Rückens sehen konnte. Ihr Blickfeld war durch die Kapuze überdies eingeschränkt, weshalb sie diskret versuchte, sich eine bessere Position zu verschaffen, um herauszufinden, um wen es sich handelte.
Wahrscheinlich war es der Anführer. Möglicherweise Remer?
Katherina hielt die Luft an und trat noch einen Schritt näher. Sie wusste, dass sie ein Risiko einging, denn jetzt stand sie auffallend allein zwischen den einzelnen Gruppen.
Die Person im schwarzen Umhang drehte den Kopf, und Katherina hatte das Gefühl, als sähe sie sie direkt an.
Es war Jon.
Sein Blick schien sie zwischen all den anderen einzufangen, doch dann schweifte er weiter über die Versammelten, bis er
sich schließlich wieder auf die Gruppe richtete, mit der er zusammenstand. Jemand schien etwas Amüsantes gesagt zu haben, denn er lächelte und nickte einem der Umstehenden zu.
Katherina konnte ihren Blick nicht von ihm losreißen und beobachtete wie gelähmt, wie er sich unterhielt und interessiert zuhörte, als wäre er unter guten Freunden. Es gelang ihr nur mit Mühe, ihre Gefühle im Zaum zu halten. Am liebsten wäre sie zu ihm gestürzt, hätte ihn umarmt und an sich gedrückt, bis der richtige Jon wieder zum Vorschein kam. Es war paradox, wie er offenbar die Gesellschaft von Menschen genoss, die ihn entführt und noch dazu seine Familie ermordet hatten.
Jon konnte sich nicht recht daran gewöhnen, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Jede noch so kleine Bewegung von ihm wurde registriert, und er ertappte sich dabei, wie er den Umstehenden nach dem Mund redete, um nicht zu zeigen, wie sehr ihn die Situation verunsicherte. Besonders ein Teilnehmer hatte ihn richtiggehend angestarrt, ohne dies auch nur im Geringsten zu verbergen. Er hatte es zu ignorieren versucht, doch obgleich er jetzt mit dem Rücken zu dieser Person stand, spürte er, wie intensiv er noch immer beobachtet wurde. Er sah sich um und bemerkte, dass er Recht hatte. Die Person stand etwa 20 Meter von ihm entfernt, den Körperformen nach handelte es sich um eine Frau. Sie stand für sich allein und beobachtete ihn aus dem Schatten ihrer Kapuze heraus.
Als er ihr grüßend
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