Die Bibliothek der Schatten Roman
Selbstverständlich sah er ein, dass es für den Orden wichtig war, mit der Reaktivierung zu beginnen. Je länger sie warteten, desto mehr Chancen verpassten sie, Einfluss zu nehmen. Trotzdem war er unsicher. Es lag erst wenige Stunden zurück, dass die Begegnung mit Katherina ihn aus der Bahn geworfen hatte, und ohne Remers resolutes Eingreifen hätte alles schiefgehen können.
So etwas durfte nicht noch einmal geschehen.
Jon war konzentriert und still, als er neben dem rothaarigen Patrick Vedel auf der Rückbank des Landrovers saß, in dem sie zur Bibliotheca Alexandrina fuhren. In den Händen hielt er das Buch, aus dem gelesen werden sollte. Auf dem Umschlag standen weder Titel noch Autor, und der schwarze Einband verriet auch sonst nichts über den Inhalt des Buches. Mithilfe dieses Buches, das explizit für diesen Zweck geschrieben worden
war, wurden alle Aktivierungen des Ordens vorgenommen. Es war so stark mit Energie aufgeladen, dass es Jon beinahe aus den Fingern geglitten wäre, als er es zum ersten Mal in die Hand genommen hatte. Aber die angenehme Vibration, die der Puls des Buches hervorrief, gab ihm Sicherheit und half ihm, sich zu konzentrieren. Der Inhalt des Buches war überraschend, die Beschreibungen fesselnd und die Bilder, die sie hervorriefen, von anziehender Klarheit. Dabei konnte von einer zusammenhängenden Geschichte nicht die Rede sein. Das Buch war mit der Absicht geschrieben worden, die Lettore-Fähigkeiten auf bestmögliche Weise zu unterstützen, daher gab es zahlreiche Szenen, die von einem Sender besonders effektiv gedeutet und aufgeladen werden konnten. Remer hatte erklärt, Jons Buch sei nur eines von zahlreichen identischen Exemplaren, die bei der Reaktivierung benutzt werden sollten. Jedes dieser Bücher war durch unzählige Rituale aufgeladen worden.
Das Wetter änderte sich auf ihrem Weg vom Dorf in die Stadt: Der Wind nahm zu, und dunkle Wolken zogen über den Abendhimmel. Als sie die Strandpromenade Al-Comiche erreichten, schlugen die Wellen so heftig gegen die Kaimauer, dass die Gischt in großen, weißen Flocken über die Fahrbahn flog.
Sie waren morgens bei ihrem Ausflug an der Bibliothek vorbeigekommen, doch der Anblick, der sich ihnen jetzt vor dem dunklen Abendhimmel bot, war ungleich spektakulärer. Das runde Gebäude wurde von Spots in der Außenwand angestrahlt, und das mächtige Glasdach leuchtete unwirklich weiß. Das rugbyballförmige Gebäude, das aus dem Vorplatz herauszuwachsen schien, beherbergte ein Planetarium. Die Fassade war ringsherum von einem leuchtenden blauen Band gesäumt. Hinter der Bibliothek lag die Bibliotheksschule, ein pyramidenförmiges Gebäude, das sich im Licht der kräftigen Scheinwerfer grün vor dem Dunkel abhob. Die beleuchteten Gebäude
stellten einen atemberaubenden Anblick dar, der vom Meer aus betrachtet sicher ein würdiger Ersatz für den antiken Leuchtturm war.
Neben Jon und Patrick Vedel, die im Fond des Wagens saßen, waren auch noch Remer auf dem Beifahrersitz und Poul Holt als Fahrer dabei. Alle vier trugen die gleichen Umhänge, mit dem einzigen Unterschied, dass der von Jon schwarz war, die der anderen aber cremefarben. Anfänglich hatte Jon es seltsam gefunden, sich so zu verkleiden, doch jetzt stimmte er den anderen zu, dass sie damit Respekt vor dem Ritual zeigten. Seine Überzeugung verstärkte sich noch beim Anblick der historischen Kulisse, die vor ihm lag. Überdies hatte der Umhang eine seltsam beruhigende Wirkung auf ihn und verhalf ihm zu einem starken Zusammengehörigkeitsgefühl. Abgesehen von einem kleinen Rest Nervosität fühlte er sich bereit, alles für die Gemeinschaft zu geben. Es war ein wenig wie vor seinen zahllosen Plädoyers, auch wenn dieses Mal weitaus mehr auf dem Spiel stand als bloß das Schicksal eines Mandanten oder sein eigener Stolz.
Poul Holt hielt direkt vor der Bibliothek, und die drei Mitfahrer stiegen aus. Sofort packte der Wind ihre Umhänge, und das Trio hastete zum Eingang, während Poul Holt den Wagen wegfuhr. Aus dem gläsernen Eingangsbereich führte ein roter Teppich weiter ins Innere der Bibliothek. Hinter den Glastüren standen zwei arabisch aussehende Männer in den gleichen hellen Gewändern und nahmen die Gäste in Empfang. Beim Anblick von Jons schwarzem Umhang verbeugten sie sich tief und murmelten etwas auf Arabisch. Danach kontrollierten sie die Amulette, bevor die kleine Gesellschaft ihren Weg durch weitere Glastüren fortsetzen durfte.
Sie kamen in eine gut zehn
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