Die Bibliothek der Schatten Roman
etwas muntereren Kollegen abgelöst, der eine sinnentleerte Phrase nach der anderen von sich gab, was Jon veranlasste aufzustehen. Er schaltete die Kaffeemaschine ein und begann mit seiner Morgenroutine: Bad, rasieren, Kaffee trinken, Hemd bügeln, Schlips binden und noch einen Kaffee trinken. Diese gewohnten Abläufe beruhigten ihn, und als er aus der Tür trat, erfüllte der vor ihm liegende Tag seine Gedanken und nicht mehr die Ereignisse des vergangenen Abends.
Als er alleine im Auto saß und sich im langsam fließenden Morgenverkehr durch die Stadt schob, fiel ihm erstmals auf, wie viel um ihn herum gelesen wurde. Die Fahrgäste in den Bussen lasen Bücher, auf Bänken saßen in Zeitungen vertiefte Leute, die Schulkinder auf den Bürgersteigen lasen sich ihre
Hausaufgaben noch einmal durch, vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend wie Seiltänzer. Im Vorbeigehen wurden Schilder in den Schaufenstern gelesen, Autofahrer nahmen aus dem Augenwinkel die Werbung auf den Autobussen wahr, Kinderwagen schiebende Mütter überflogen Kataloge mit aktuellen Sonderangeboten. Fassaden, Fenster, Schilder und Flächen auf öffentlichen Verkehrsmitteln, alles war mit Worten und Sätzen bedeckt, mit dem einzigen Ziel, ihn dazu zu verleiten, ihre Botschaft zu entschlüsseln. Dabei war er sich plötzlich gar nicht mehr sicher, ob er noch selbst kontrollieren konnte, was er las.
Den Rest der Strecke bis ins Büro richtete Jon den Blick nur noch stur geradeaus.
Er hatte die Glastüren zum Vorraum kaum aufgestoßen, als seine Sekretärin Jenny mit einer Zeitung in der Hand auf ihn zustürzte. Sie war ein blondes, freundliches, ordentliches Mädchen.
»Hören Sie sich das an«, rief sie munter und wedelte mit der Zeitung vor seinem Gesicht herum.
Jenny war immer wesentlich früher im Büro als er, was dazu geführt hatte, dass sie ihm Artikel aus den Tageszeitungen heraussuchte, die entweder relevant für seine Arbeit oder einfach nur unterhaltsam waren. Die Ausbeute präsentierte sie ihm dann bei der ersten Tasse Kaffee, indem sie sie laut vorlas. Oft brauchte er die Nachrichten danach gar nicht mehr selbst durchzublättern.
Jon sah erst die Zeitung an und dann sie. Ihr erwartungsvoller Blick heftete sich aufs Papier, und ihre Lippen formten bereits den ersten Satz.
»Ich lese es mir später durch«, bremste Jon sie gnadenlos aus und ging weiter.
»Okay«, murmelte Jenny sichtlich enttäuscht und ließ die Arme sinken.
Jon blieb stehen und drehte sich um.
»Tut mir leid, ich hab heute Nacht nicht gut geschlafen«, versuchte er ihr zu erklären. »Geben Sie mir eine halbe Stunde.«
Jenny nickte und faltete die Zeitung demonstrativ langsam zusammen.
»Hübscher Schlips«, sagte sie schmollend und ging zu ihrem Schreibtisch zurück.
Jon hob grüßend die Hand und war bereits auf dem Weg durch die offene Bürolandschaft zur Remer-Zelle. Vor der Tür fischte er den Schlüsselbund mit dem Brillenschlumpf heraus und schloss auf. Als er eingetreten war, lehnte er sich mit dem Rücken gegen die geschlossene Tür.
Er atmete ein paar Mal tief durch, ehe sich sein Gesicht zu einer wütenden Grimasse verzog. Es brachte gar nichts, wenn er in einem Zustand konstanter Paranoia herumlief. Er konnte unmöglich seiner Arbeit nachkommen, ohne zu lesen, und es war auch nicht sehr realistisch, dass nie ein anderer Mensch in seiner Nähe las. Er schüttelte den Kopf. Falls er früher schon einmal von Lettori beeinflusst worden war, hatte er jedenfalls nichts davon gemerkt, und in Anbetracht seiner momentanen Stellung hatten sie ihm zumindest keine Steine in den Weg gelegt. Im Gegenteil.
Es klopfte an der Tür, und er trat einen Schritt zur Seite.
Es war Jenny.
»Halbech möchte Sie sprechen«, verkündete sie in geschäftsmäßigem Ton. »In zehn Minuten in seinem Büro.«
Jon nickte.
»Okay, danke, Jenny.«
Sie zog die Tür lautlos zu.
»Ausgerechnet«, murmelte Jon.
Er hatte dieses Gespräch erwartet. Irgendwann. Es war eine Woche her, dass Halbech ihm den Fall Remer übergeben hatte, und Jon wusste, dass er seinem Chef ein Konzept vorlegen musste. Auch wenn eine Woche eine unmenschlich kurze
Zeitspanne war, um sich in die umfassenden Akten einzuarbeiten.
Jon öffnete seine Tasche und nahm eine Klarsichthülle mit sechs maschinengeschriebenen Seiten heraus, die er eilig überflog. Die Seiten enthielten seinen Strategieplan im Fall Remer - eine ordentliche Strategie - ganz nach den Regeln. Aber er wusste auch, dass Halbech
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