Die Bibliothek der Schatten Roman
könntest ihn von seinem Thron stoßen.«
»Ich habe nicht das Gefühl, dass er mich loswerden will, im Gegenteil«, antwortete Jon neutral.
»Gut, okay«, gab Paw nach. »Ich muss los. Bis dann!«
Sie sahen Paw hinterher, wie er auf einem alten Herrenfahrrad ohne Licht in die Dunkelheit fuhr.
»Was denkst du?«, fragte Jon.
»Er ist ein kleiner Rotzlöffel«, platzte Katherina heraus.
»Ich meinte eigentlich das Treffen«, sagte Jon.
Sie grinste, wurde aber gleich wieder ernst.
»Die haben Angst.«
Zum ersten Mal seit Ewigkeiten erlaubte Jon sich, acht Stunden am Stück zu schlafen. Danach hatte er zwar noch immer ein Schlafdefizit, war aber wach genug, um seine Morgenroutine durchzuführen, ohne die Rasur zu überspringen.
Im Licht der neuesten erschütternden Ereignisse hatten die gewohnten Abläufe und Rituale an Bedeutung verloren. Es war, als hätte er eine neue Identität angenommen - tagsüber Anwalt, nachts Ermittler in Sachen heimliche Verschwörungen, und dort, wo sich diese beiden Welten überlappten, wurde ihm die Absurdität der Tatsache bewusst, dass er zur Arbeit ging, obwohl er lieber den Tod seines Vaters untersuchen würde oder Amateurdetektiv spielte, statt sich um den unmittelbar bevorstehenden großen Durchbruch in seiner Karriere zu kümmern.
Der gerade begonnene Tag wartete gleich mit drei solcher Überschneidungen auf.
Das erste Mal, als er einen Glaser anrief, um neue Scheiben für den Laden zu bestellen. Er hatte einen Betrieb gewählt, der in der Nähe des Libri di Luca lag, und es stellte sich heraus, dass der Glasermeister Luca gekannt hatte. Jon stellte sich so
selbstverständlich als der neue Besitzer vor, dass er hinterher noch lange das Telefon anstarrte und gegen den Drang ankämpfen musste, sich im Spiegel anzuschauen.
Die andere Überschneidung kam in Form eines Telefonanrufes vor dem Frühstück.
»Campelli? Remer hier«, war am anderen Ende einer rauschenden Leitung zu hören.
»Gut, dass Sie anrufen«, antwortete Jon. »Ich gehe davon aus, dass Sie meinen Brief bekommen haben?!« In den Tagen nach Remers letztem Besuch hatte Jon die Fragen zu Papier gebracht, die er während des kurzen Treffens nicht hatte klären können, und hatte sie Remer geschickt.
»Was für einen Brief?«, fragte Remer. »Nein, ich habe nichts bekommen. Aber ich bin momentan sowieso in Holland und nicht ganz einfach zu erreichen. Am besten schicken Sie mir eine Mail, die kommen meistens bei mir an.«
»Genau das habe ich getan«, bemerkte Jon.
»Nein, nein, aber deshalb rufe ich nicht an«, wehrte Remer ungeduldig ab. »Erinnern Sie sich an den Buchhändler, von dem ich Ihnen erzählt habe? Ich habe ihn gestern in Amsterdam bei einem Empfang getroffen. Geschäftstüchtiger Bursche. Er hat mir erzählt, was mit dem Laden passiert ist. Eine sehr traurige Geschichte. Wie ernst ist es?«
»Nicht so schlimm«, antwortete Jon. »Die Holzverkleidung und die Fenster müssen erneuert werden, und drinnen müssen ein paar Kleinigkeiten ausgebessert werden, aber sonst ist nichts passiert.«
»Das freut mich zu hören, Campelli, ich kann schließlich nicht zulassen, dass sich mein Anwalt die Finger verbrennt.« Remer lachte schallend.
»Nett, dass Sie sich Sorgen um mich machen, Remer, aber ich hätte lieber ein paar Antworten auf die Fragen, die ich Ihnen geschickt habe.«
»Ja, ja, ich werde es mir ansehen«, erwiderte er. »Ich wollte
Ihnen nur mitteilen, dass er noch immer am Kauf interessiert ist. Den Buchhändler meine ich. Über eventuelle Brandschäden wird er sicher großzügig hinwegsehen.«
»Wie ich bereits sagte…«
»Sagen Sie bloß nicht, dass Sie immer noch erwägen, in die Buchhändlerbranche zu wechseln, Campelli?«, unterbrach Remer ihn. »Mag ja sein, dass es spannender ist, als Sie und ich so denken, aber Sie wissen doch sehr genau, was Sie am besten können. Hören Sie auf meinen Rat, verkaufen Sie den ganzen Mist und lassen Sie die Finger davon. Für Laien wie uns ist das ein viel zu unsicheres Geschäft, das haben doch wohl auch die letzten Vorfälle in aller Deutlichkeit gezeigt.«
»Remer«, schnitt Jon ihm das Wort ab. »Ich habe eine Entscheidung getroffen. Das Libri di Luca wird nicht verkauft. Und wenn Sie mich jetzt entschuldigen, ich würde mich gerne weiter darum kümmern, Sie vor dem Gefängnis zu bewahren.« Er legte auf, ehe Remer antworten konnte.
Nach diesem Anruf fiel es ihm alles andere als leicht, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Er
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