Die Bibliothek der Schatten Roman
dass er damit jemand töten könnte. Außerdem wäre es ein Leichtes, sich gegen einen solchen Angriff zu schützen.« Er zog die Schultern hoch. »Man muss sich einfach die Ohren zuhalten.«
»Sehen Sie mir meine Unwissenheit nach«, unterbrach Jon. »Aber ist das alles? Es reicht, sich einfach die Ohren zuzuhalten?«
Henning nickte.
»Die Einflussmöglichkeit eines Senders hängt davon ab, dass der Zuhörer den Text hört und versteht. Der Text und die dadurch ausgelösten Gefühle öffnen den Kanal, durch den der Lettore die betreffende Person erreichen kann. Der beste Schutz ist also tatsächlich, sich die Ohren zuzuhalten oder wegzulaufen.«
»Dann kann ausgeschlossen werden, dass ein Sender meinen Vater getötet hat?«
»Zumindest ist es sehr unwahrscheinlich, dass er durch die Fähigkeiten eines Senders getötet wurde - es sei denn, Luca wäre gefesselt gewesen. Aber dafür gibt es keine Hinweise, oder?«
Kortmann schüttelte den Kopf.
»Das hätte Spuren hinterlassen.«
»Okay«, sagte Jon nach kurzem Schweigen. »Lucas Tod weist auf einen Empfänger hin. Aber könnte er nicht auch an
einem natürlichen oder durch ein Gift hervorgerufenen Herzversagen gestorben sein? Keiner der anderen Angriffe weist eindeutig auf einen Empfänger als Täter hin, darum will ich zu diesem Zeitpunkt noch nichts ausschließen.« Er sah die Anwesenden nacheinander an. Die meisten wirkten mehr oder weniger resigniert, und aus Lines Augen strahlte die nackte Angst.
»Vielleicht sollten wir erst einmal überlegen, was das Motiv sein könnte?«, schlug Jon vor.
Nach einer weiteren Schweigepause räusperte sich Henning. Er kniff die Augen kurz zusammen, bevor er zu reden begann.
»Das ist doch alles total unlogisch«, meinte er und faltete die Hände vor sich auf dem Tisch. »Kein Lettore, sei er nun Sender oder Empfänger, hätte irgendeinen Vorteil davon. Das Risiko ist viel zu hoch. Die Zusammenhänge zwischen den Vorfällen fallen normalen Menschen vielleicht nicht unbedingt ins Auge, aber wenn die Übergriffe nicht bald aufhören, könnten wir alle enttarnt werden, und das will schließlich keiner von uns.«
»Wieso eigentlich nicht?«, fragte Jon. »Warum diese Geheimnistuerei? Könnten Ihre Fähigkeiten nicht allen zugutekommen, wenn sie bekannt sind?«
»Lassen Sie mich mit einer Gegenfrage antworten«, sagte Henning. »Wie geht es Ihnen mit dem Wissen, dass es Menschen wie uns gibt, die Ihre Entscheidungen und Meinungen beeinflussen können, ohne dass Sie etwas dagegen tun können?«
»Das Ganze ist ziemlich neu für mich«, begann Jon. »Ich habe sicher noch nicht alle Konsequenzen durchdacht, muss aber zugeben, dass es mir nicht recht geheuer ist.«
Lee meldete sich zu Wort, indem er sich vorbeugte und mit dem Zeigefinger auf den Tisch tippte.
»Genau das ist der Grund«, erklärte er aufgeregt. »Das
ist eine ganz normale Reaktion. Am Anfang wären die Leute wahrscheinlich fasziniert. Wir würden in alle möglichen Freakshows eingeladen werden, wo wir in bunten Kostümen die Gedanken der Zuschauer im Saal lesen oder Leute dazu bringen würden, kindische Dinge zu tun, indem wir für sie lesen, so wie in diesen platten Hypnose-Shows. Aber ich garantiere Ihnen, dass es nicht lange dauern wird, bis die Leute nervös werden und Angst bekommen, von uns manipuliert zu werden. Womöglich würden sie aufhören zu lesen, außer wenn sie alleine oder unter Freunden sind.«
Jon bemerkte, wie das Ehepaar und Henning Petersen Blicke wechselten und Thor nachsichtig lächelte. Lee merkte nichts oder ignorierte es und fuhr mit seiner Erläuterung fort.
»Menschen mit den besonderen Fähigkeiten werden ausgestoßen und wie Aussätzige behandelt, man wird anfangen, sie zu meiden. Irgendwann wird die wachsende Paranoia dann dazu führen, dass Lettori registriert, wenn nicht sogar mit einem bestimmten Erkennungszeichen ausgestattet werden, damit der normale Bürger uns auf der Straße erkennen und sich dementsprechend verhalten kann. Langfristig wird die Öffentlichkeit wahrscheinlich die Konsequenzen ziehen und es für das Schlauste und Sicherste erachten, uns einzusperren und von den anderen Menschen abzuschirmen, abgeschnitten von Büchern und Texten.«
Lee unterbrach seinen Redestrom einen Augenblick, um sich zu vergewissern, dass Jon ihm folgen konnte.
»Die nachfolgenden Lettori werden versuchen, ihre Fähigkeit geheim zu halten«, fuhr er mit hochgezogenen Schultern fort. »So wie wir es jetzt auch tun. Es wird eine
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