Die Bibliothek der Schatten Roman
Seitenblick auf Jon, der seinen Marsch wieder aufgenommen hatte.
»Wir haben sie die Schattenorganisation genannt«, erklärte Tom lächelnd.
»Vielleicht sollten Sie von Anfang an erzählen«, schlug Katherina vor.
Tom warf Jon einen zögernden Blick zu.
»Fahren Sie fort«, befahl Jon.
Tom seufzte resigniert.
»Am Anfang war es nur eine fixe Idee«, sagte er. »Mehr oder weniger ein Spiel zwischen Luca und mir. Ich weiß nicht mehr, wer von uns damit angefangen hat, aber eines Tages hatten wir die fixe Idee, dass es neben der Bibliophilen Gesellschaft noch eine andere Organisation gibt, die im Verborgenen operiert, wie ein Schatten. Eine Organisation, die sich von der Bibliophilen Gesellschaft insofern unterscheidet, dass sie die Fähigkeiten konsequent zu kriminellen oder zumindest egoistischen Zwecken missbraucht.« Er räusperte sich. »Eigentlich war es nur ein Spaß, eine Art Insiderwitz zwischen uns beiden. Bald fingen wir an, die Zeitungen nach Vorfällen zu durchkämmen, die unsere Theorie unterstützten. Wir zeigten sie uns mit einem Augenzwinkern. ›Die Schattenorganisation hat wieder zugeschlagen‹ sagte Luca immer, wenn er mir wieder mal triumphierend einen Zeitungsausschnitt über einen Politiker präsentierte, der plötzlich seine Meinung geändert
hatte, oder einen Unternehmer, der irgendetwas Unerwartetes getan hatte.« Tom lächelte in sich hinein. »Natürlich waren das pure Hirngespinste. Wir waren damals eine ganze Ecke jünger, und unsere Vorstellungskraft war noch nicht so eingerostet wie heute.«
Tom räusperte sich erneut, woraus Jon schloss, dass er seine Stimme lange nicht mehr benutzt hatte.
»Die Vorfälle und Zufälle begannen sich zu häufen«, fuhr Tom fort. »Und irgendwann konnten wir die Möglichkeit nicht länger ignorieren, dass das, was wir als internen Scherz erfunden hatten, tatsächlich wahr sein könnte. Lange Zeit schoben wir es beiseite, aber mit der Zeit hatten wir Übung darin bekommen, mögliche Zusammenhänge in den Vorfällen zu erkennen, und wir stießen auf immer mehr Ereignisse, die die Existenz einer solchen Organisation durchaus wahrscheinlich machten.«
»Was haben die anderen dazu gesagt?«, wollte Katherina wissen.
»Wir haben es für uns behalten«, antwortete Tom mit reuiger Stimme. »Wir waren von Verfolgungswahn befallen. Eine unserer Thesen war, dass diese Organisation der Gesellschaft nur verborgen geblieben sein konnte, weil wir Spione in unseren eigenen Reihen hatten.«
»Hatten Sie einen konkreten Verdacht?«, fragte Katherina.
Tom schüttelte den Kopf.
»Es gab mehrere Kandidaten, aber uns fehlten die konkreten Beweise. Aus dem Grund haben wir einen ›Plan‹ entworfen, um sie aus ihrem Versteck zu locken.«
Jon brach seinen Gang über den unebenen Boden ab und setzte sich wieder neben Katherina. Toms Blick wanderte zu Jon. In seinen blauen Augen lag eine unendliche Melancholie.
»Wir hatten uns ausgerechnet, dass sich die Schattenorganisation melden würde, sollte einer von uns beiden aus
einigermaßen unschönen Gründen aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Um uns zu rekrutieren.« Tom seufzte. »Ganz simpel.«
Er riss den Blick von Jon los und sah sich im Zimmer um. Seine Augen suchten die Decke ab, schweiften über die Regale und den ausgetretenen Holzboden. Er sah aus wie einer, der aus dem Tiefschlaf gerissen worden war und sich zu orientieren versuchte. Dann blickte er auf seine Hände.
»Der erste Teil des Plans war ein rauschender Erfolg«, fuhr er mit einem Lächeln fort. »Mein angeblicher Verstoß gegen die Regeln der Gesellschaft war so abstoßend, dass alle sich von mir distanzierten. Und bestimmt war jeder Einzelne von ihnen dankbar, dass Luca sich der unangenehmen Aufgabe des Ausschlusses annahm. Niemand hinterfragte den Wahrheitsgehalt der Geschichte, denn wer dachte sich schon so etwas aus?« Er ließ die Frage in der Luft hängen. »Danach hieß es abwarten.« Er breitete die Arme aus. »Und das taten wir. Und tatsächlich geschah etwas, aber etwas, das wir uns in unseren wildesten Fantasien nicht ausgemalt hatten …«
Katherina und Tom erhoben sich gleichzeitig von ihren Plätzen. Sie hatten beide den Kopf zur Seite geneigt und die Blicke an die Decke gerichtet, als hätten sie ein Geräusch auf dem Dach gehört.
»Was ist?«, erkundigte sich Jon und sah die beiden abwechselnd an. Tom hatte die Augen geschlossen und die Stirn in tiefe Falten gelegt.
»Unbefugten ist der Zutritt verboten«, flüsterte
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