Die Bibliothek der Schatten Roman

Text zu richten. Paw saß mit einem dümmlichen Grinsen auf den Lippen dabei, als wartete er darauf, es dem Neuen in der Klasse richtig zu zeigen.
    Nach ein paar Seiten sah Iversen sie an und nickte ihr zu. Sie schloss die Augen, konzentrierte sich auf Jons Lesen und blockte alles andere ab. Sie hatte die Betonungen, die er dem Text gab, langsam verstärkt und dafür gesorgt, dass seine Aufmerksamkeit ausschließlich auf das Buch gerichtet war. Die Bilder, die er erschuf, wurden immer plastischer und detaillierter, so dass sie irgendwann begann, ihn etwas zurückzuhalten. Sie hatte gespürt, wie er diesen plötzlichen Widerstand zu überwinden versucht hatte, wie das Wasser eines Stausees, das gegen die Staumauer presst.
    Katherina öffnete die Augen. Iversen hatte aufgehört zu lesen und nickte ihr noch einmal zu. Daraufhin schloss sie wieder die Augen und hob ihre Blockade auf, so dass Jon sich frei entfalten konnte. Gleichzeitig hatte sie noch einmal die Betonung der Bilder des Textes verstärkt. Das Resultat war eine Explosion aus Farben und ein wahrer Strom aus Bildern gewesen. Die Aktivierung war vollendet, und sie war überrascht über die Detailliertheit und Tiefe von Jons Deutung des
Textes. Es schien, als wären die Bilder, die er als gewöhnlicher Leser geschaffen hatte, nur unscharfe Schwarz-Weiß-Kopien gewesen, verglichen mit den satten Farben, der Klarheit und der Betonung, die er jetzt erschuf. Ein Unterschied, wie wenn man ein und denselben Film im Fernsehen oder im Kino sah.
    Sie hatte ihren eigenen Einfluss mehr und mehr abgeschwächt. Jon konnte seine Konzentration jetzt problemlos auch ohne sie aufrechterhalten, und sie spürte sogar, wie er mit seinen neuen Fähigkeiten zu experimentieren begann. Als sie die Augen öffnete, grinste Iversen breit, während Paw von der Geschichte so gefesselt war, dass er nichts anderes zu bemerken schien.
    »Was habe ich gesagt?«, flüsterte Iversen und zwinkerte ihr zu. Sie lächelte zurück.
    Es war schwer, sich nicht von Jons packender Erzähltechnik gefangen nehmen zu lassen. Die Bilder und Assoziationen, die er weckte, lockten die Zuhörer auf eine fantastische Entdeckungsreise. Katherina hatte Don Quijote schon oft gehört, konnte sich aber nicht erinnern, jemals so in die Geschichte hineingezogen worden zu sein. Die Haare auf ihren Armen stellten sich auf, und sie spürte ein Kribbeln in der Magengegend.
    Katherina konzentrierte sich wieder auf Jons Entdeckung seiner neuen Fähigkeiten. Sie richtete seine Aufmerksamkeit auf das Instrumentarium, das ihm zur Verfügung stand, und jedes Mal überraschte er sie, indem er ihre Erwartungen weit übertraf. Was er vermochte, war ihr bislang unmöglich erschienen.
    Während dieser Durchbrüche begannen sich auf einmal die physischen Phänomene zu manifestieren. Die Kerzen gingen aus, die Lampen pulsierten mit unterschiedlicher Lichtstärke, und die Möbel begannen irgendwie zu zittern.
    Als Iversen Katherina bat, Jon zurückzuholen, klang seine Stimme nervös. Jon selbst bemerkte nichts, Schweiß rann
ihm übers Gesicht, und im Weiß seiner Augen waren ein paar Adern geplatzt. Er las noch immer mit lauter, klarer Stimme, und Katherina versuchte vergeblich, ihn zu dämpfen. Die Regale begannen immer stärker zu zittern, und die ersten Bücher stürzten zu Boden.
    Die Unruhe riss Paw aus seiner Trance. Er stand auf und ging zu Jon, doch noch ehe er ihn erreichte, sprang ein blauer Funke von Jons Ellbogen in Paws ausgestreckte Finger. Paw wurde auf den Sessel zurückgeschleudert, der von der Wucht nach hinten kippte. Er war rasch wieder auf den Beinen, fasste sich aber jammernd an den rechten Arm.
    Katherina versuchte weiter, Jon mental zu bremsen, aber die Entladungen wurden immer heftiger. Kleine Blitze tanzten über seinen Körper und zu den Steckdosen und Elektrokabeln, und Funken sprühten durch den Raum. Paw und Iversen hatten alle Hände voll zu tun, überall auflodernde Flammen und Glut auszutreten, während die Möbel immer stärker zitterten und sich zu bewegen begannen. Irgendwann kippte Iversen ein Regal in den Rücken. Paw eilte ihm zu Hilfe.
    Katherina spürte Jons energetischen Puls auf und versuchte, ihm zu folgen. Die Entladungen kamen stoßweise, doch in regelmäßigen Abständen, und in der nächsten Pause verwendete sie all ihre Fähigkeiten darauf, Jons Konzentration zu durchbrechen. Ihr Sessel schob sich einen Meter von ihm fort, doch er verstummte und richtete seinen Blick auf sie. In seinem