Die Bibliothek der Schatten Roman
anzusehen, hielt er Kortmann die Tür auf, der seinen Rollstuhl mühsam über die Türschwelle bugsierte. Er zögerte einen Augenblick, als er Clara sah, nickte dann aber seinem Helfer zu. Der junge Mann verließ das Libri di Luca und machte vorsichtig die Tür hinter sich zu.
»Clara«, sagte Kortmann laut. »Ich hatte nicht erwartet, Sie hier zu sehen. Wir haben uns lange nicht gesehen.«
»Ich bin auch überrascht, William«, antwortete Clara, ging auf den Mann im Rollstuhl zu und reichte ihm die Hand.
Er schnitt eine Grimasse und schüttelte sie kurz und förmlich.
»Und Iversen ist wieder unter den Lebenden, wie ich sehe.«
Iversen nickte und lächelte ihn an.
»Es geht mir gut.«
Kortmann rollte seinen Rollstuhl näher an das Feldbett heran und musterte Jons Gesicht.
»Was man von unserem jungen Freund hier wohl nicht sagen kann«, konstatierte er und sah zu Katherina, die bemerkte, wie sich seine Kiefermuskeln anspannten. »Wie konnten Sie nur auf die Idee kommen, eine Aktivierung durchzuführen, ohne mich zu informieren?« Kortmann wandte sich abrupt an Iversen, der erschrocken nach Worten rang.
»Wir haben es nicht für nötig gehalten«, stammelte er schließlich. »Er hat selbst darauf bestanden, die Aktivierung so schnell wie möglich durchzuführen.«
Kortmann seufzte.
»Was ist passiert?«
Iversen berichtete zum zweiten Mal von der Séance. Kortmann ließ sich nichts anmerken, wandte seinen Blick aber auch nicht von Iversen.
»Ich möchte den Keller sehen«, verlangte Kortmann, nachdem Iversen zum Schluss gekommen war. »Du«, sagte er und zeigte auf Paw. »Wenn dein Arm wieder in Ordnung ist, kannst du mich sicher nach unten tragen.«
Paw nickte eifrig und schob den schmächtigen Mann in seinem Rollstuhl ein bisschen hin und her, bis er ihn richtig zu fassen bekam und herausheben konnte. Während die anderen über die Wendeltreppe nach unten gingen, blieb sie bei Jon. Es war ihm nicht anzusehen, dass vor wenigen Stunden noch Funken aus seinem Körper gesprüht waren. Seine Augen bewegten sich hinter den Lidern, und sein Atem war ruhig. Vorsichtig legte sie ihm die Hand auf die Stirn. Sie war warm und etwas feucht.
Nach zehn Minuten kamen die anderen zurück. Paw setzte Kortmann wieder in seinen Rollstuhl und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.
Kortmann wollte näher ans Feldbett geschoben werden und studierte den bewusstlosen Jon mit ganz neuem Interesse.
»Der junge Campelli steckt voller Überraschungen«, sagte er wie zu sich selbst. »Haben Sie so etwas schon einmal erlebt?«, fragte er Clara, die auf der anderen Seite des Bettes stand.
Sie schüttelte den Kopf.
»Nie. Es hat nie physische Auswirkungen oder Energieentladungen gegeben, oder wie immer wir das nennen sollen.«
»Dann wissen wir also wahrhaftig nicht, womit wir es hier
zu tun haben«, stellte Kortmann sachlich fest. »Es kann sich um eine neue Spielart der Lettore-Fähigkeit handeln, die wir noch nicht kennen, oder um ein einzigartiges Phänomen - einen Bereich im Hirn, der durch Zufall aktiviert wurde und eigentlich mit unseren Fähigkeiten nicht in Zusammenhang steht.«
Katherina räusperte sich.
»Ich denke schon, dass es mit seinen Fähigkeiten zusammenhängt.«
»Könnten Sie uns das etwas genauer erklären«, fragte Kortmann gereizt.
»Wenn wir unsere Kräfte auf Sender anwenden, spüren wir eine Art energetischen Puls in den Betonungen, die sie aussenden.« Clara nickte zustimmend. »Und ich habe festgestellt, dass diese Phänomene in Einklang mit Jons Puls standen«, erklärte Katherina. »Die Frequenz der Ausschläge war zwar nicht regelmäßig, aber die Phänomene traten rhythmisch auf und wurden mit jedem Puls verstärkt, da bin ich mir sicher.«
»Und dieser … energetische Puls, den haben nur Sender?« Kortmann klang jetzt freundlicher, doch seine Augen strahlten kalt, so dass Katherina zu Clara blickte, die sie wie eine stolze Mutter anlächelte.
»Ja«, antwortete Katherina. »Das hat nichts mit dem normalen Puls zu tun. Er tritt nur auf, wenn ein Sender seine Fähigkeiten nutzt.«
»Auf diese Weise können wir Empfänger erkennen, ob eine Person Senderfähigkeiten hat oder nicht«, fügte Clara hinzu.
Kortmann rollte etwas von Jons Feldbett zurück.
»Das würde demnach heißen, dass er ungefährlich ist, solange er nicht liest, nicht wahr?«
»Das ist wohl so, ja«, bestätigte Clara.
Kortmann warf einen Blick auf die Regale ringsherum.
»Nur wenn er liest
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