Die Bibliothek des Zaren
Da hat man den Hauptmann mit der Knute geschlagen, ihm die Nasenflügel ausgerissen und ihn auf ewig nach Sibirien geschickt.«
»Wegen einer Krähe?«, fragte Cornelius ungläubig.
»Wegen Blasphemie. O mein Freund, Ihr habt keine Vorstellung davon, was für Bräuche in diesem Land herrschen! Selbst in Persien gibt es keine so unsinnigen, absurden Gesetze wie hier.«
Dem Oberst machte es offenbar Spaß, dem Neuling mit den lokalen Gruselgeschichten Angst einzujagen. Er rief dem Dienstmädchen zu, es solle frischen Kaffee kochen und Wacholderschnaps aus dem Keller holen, und erzählte dann derartige Dinge, dass von Dorn nicht mehr aus dem Staunen herauskam.
»Spielt Ihr Schach?«
»Hin und wieder. Ich spiele nicht besonders gut, aber wenn mir ein Winterabend zu lang wird . . .«
»Verboten«, unterbrach ihn der Oberst. »Für diesen gottlosen Zeitvertreib bekommt man die Knute. Schnupft Ihr Tabak?«
»Nein, meine Augen fangen davon an zu tränen und hören nicht mehr auf.«
»Probiert mal, in der Öffentlichkeit zu schnupfen – einfach so, aus Interesse«, schlug ihm der hinterlistige Oberst vor. »Nach dem Gesetz schneidet man Euch dafür die Nase ab, zack! Mit Hunden darf man nicht spielen; schaukeln ist verboten, sobald das erste Viertel zu sehen ist, darf man den Mond nicht betrachten. Bald wird es heiß und schwül, kommt bloß nicht auf die Idee, mein lieber Freund, während eines Gewitters in der Jausa zu baden. Das gilt als Hexerei – wenn es einer meldet, brechen sie Euch die Knochen am Wippgalgen.«
»Gut, dass Ihr mich warnt«, dankte ihm Cornelius, der ganz nass geschwitzt war von all diesen Mitteilungen. »Gibt es denn irgendwelche unschuldigen Vergnügungen, die erlaubt sind? Tänze mit Damen, das Hören von Musik?«
»Bei uns hier in Kukuj könnt Ihr Euch wie in Deutschland benehmen, wir haben unsere eigenen Gesetze. Aber an der Moskwa gibt es keine Musik – die orthodoxe Kirche hält Geigen, Violen, Flöten und andere Instrumente für Teufelswerk.«
Das Stichwort Kirche lenkte von Dorns Gedanken in eine andere Richtung.
»Welcher Konfession gehört Ihr an, Herr Liebenau?«, fragte er vorsichtig. »Der römischen oder der reformierten?«
»Ich bin in Nassau geboren«, antwortete der Oberst gleichmütig, »entsprechend bin ich also Protestant. Ihr seid wohl Katholik, wenn Ihr in Württemberg geboren seid? Mich stört das nicht, ich bin der Meinung, dass der Glaube eine Privatangelegenheit ist.«
»Ja«, sagte Cornelius erleichtert. »Ich bin Katholik und habe schon fast einen Monat nicht mehr gebeichtet. Wo kann ich einen Geistlichen finden?«
»Nirgends.« Der alte Haudegen hob mitfühlend die Hände. »Der lateinische Glaube ist in Moskowien strengstens verboten. Uns Protestanten dulden sie noch gerade, aber weder einen katholischen Geistlichen noch eine Kirche werdet Ihr hier finden.«
»Wie soll ich denn ohne Beichte und Kommunion leben können?«, rief von Dorn entsetzt aus.
»Das geht schon irgendwie, andere machen es ja auch«, sagte Liebenau achselzuckend. »Die beten dann eben vor einer Ikone. Und wer pfiffiger ist, der tritt zum russischen Glauben über. Dafür wird man befördert, so bestimmt es ein großzügiges Geschenk des Zaren. Ein Konvertit muss nicht unbedingt in der Vorstadt leben, er kann auch in Moskau wohnen. Und er kann eine Russin heiraten. Viele machen das, besonders Leute aus dem Kaufmannsstand«, sagte der Oberst und verzog verächtlich das Gesicht. »Um der Vorteile willen. Nach ein, zwei Generationen ist der gute europäische Name dann dahin, das liegt an der hiesigen Luft. Die hier auf die Welt kommen, nennt man ›alte Deutsches während wir beide ›neue Deutsche‹ sind. Ich habe aus dem Fenster den Dolmetscher Paschka Nemzerow bei Euch gesehen. Sein Großvater war der beste Uhrmacher in der alten Deutschen Vorstadt, er riss sich um Aufträge vom Zaren und konvertierte. Inzwischen ist ein halbes Jahrhundert vergangen, und da habt Ihr die Frucht des Renegatentums: diese Missgeburt Paschka, die weder ein Deutscher noch ein Russe ist. Habt Ihr die Beule auf seiner Stirn gesehen? Das kommt von seinem Gebetseifer, er verneigt sich immer bis zum Boden. Er wohnt in der Nähe einer Kirche und singt da im Chor. Gut, dass er den Fuß nicht über die Schwelle gesetzt hat, der Hund, sonst hätte ich ihn mit Tritten verjagt.«
Der Kommandeur schnaufte zornig und haute mit der Faust auf den Tisch, so dass die Porzellankanne einen Satz machte und schwarze Brühe
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