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Die Bibliothek des Zaren

Die Bibliothek des Zaren

Titel: Die Bibliothek des Zaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Faustle wird hierher zurückkommen?«
    Der Oberst lächelte spöttisch:
    »Natürlich kommt er zurück, aber Faustle ist nicht so blöd, als dass er sich in Kukuj blicken ließe. Ihn würden hier viele Offiziere und Handwerker gerne sehen, nicht nur Ihr. Nein, Faustle hat ein Haus in Samoskworetschje, in der Strelitzenvorstadt. Wir haben keinen Zugang zum anderen Moskwa-Ufer, zwischen uns Soldaten und den Strelitzen herrscht eine alte Feindschaft.«
    Cornelius fiel ein, wie seltsam sich seine knallgelben Bewacher in der deutschen Vorstadt benommen hatten. Jetzt wusste er, warum.
    »Macht nichts«, sagte er zähneknirschend. »Dann muss ich meine Dummheit und Leichtgläubigkeit eben ausbaden. Ich halte irgendwie die vier Jahre durch, und dann gehts zurück nach Europa.«
    »Von was für vier Jahren redet Ihr denn?«, rief Liebenau verwundert aus. »Von was für einem Europa? Habt Ihr denn immer noch nicht verstanden? Hierher kommen, das kann man, aber Weggehen, das ist ausgeschlossen, nie im Leben. Ihr bleibt für immer in Russland, man wird Euch hier in der kargen russischen Erde begraben, und aus Eurem Staub wird die wichtigste russische Pflanze sprießen: die Klette.«

FÜNFTES KAPITEL
    Da hat man keinen Heller,
und plötzlich gleich einen Altyn
    Hätte der freie Fall nicht zweieinhalb Sekunden, sondern ein kleines bisschen länger gedauert, Nicholas hätte vor Entsetzen einen Herzschlag bekommen. Aber gerade in dem Augenblick, da dem Magister zu Bewusstsein kam, was mit ihm geschah, und er eben aus vollem Hals losschreien wollte, näherte sich der Flug auch schon seinem Ende: erst ein Knacken, Krachen, widerliches Rascheln, und dann ein dumpfer Aufprall. Fandorin fand sich in einem engen, rechtwinkligen Behältnis wieder, in dem es nach frischem, klebrigem Laub roch und das auch von so einem Grün war wie das Blattwerk.
    Ohne etwas zu verstehen, fing er wie wild an herumzufuchteln und in diesem harten und unnachgiebigen grünen Alptraum entsetzt um sich zu schlagen. Es gelang ihm, sich herauszuwinden, er spürte mit den Füßen harten Grund, sprang auf, versank aber gleich wieder in Pappelzweigen und Papiermüll. Die Flugbahn der auf dem Dach begonnenen Schwindel erregenden Reise des zweiten Baronets hatte mit dem treffsicheren Landen im bis zum Rand mit gestutzten Zweigen, Blättern und zerknülltem Papier gefüllten Abfallcontainer ihren Endpunkt erreicht. Nicholas war außer Atem und schnappte gierig nach Luft; zerkratzt und benommen vom Fall, war er ansonsten unversehrt geblieben.
    Die Beine wollten ihn nicht mehr aufrecht halten, und er sackte kraftlos auf die federnde Unterlage aus frisch dahingeschiedenem Laub. Sofort bildete sich über seinem Kopf eine Hülle aus grünem Blattwerk. Fandorin schaute durch die Zweige hindurch auf den blauen Himmel und dachte an überhaupt nichts, denn, woran soll man denn bitte denken können, wenn einem mir nichts dir nichts so etwas widerfährt?
    Wenn Nicholas von dem Schock und vor Erstaunen nicht vorübergehend die Fähigkeit zu abstraktem Denken verloren hätte, so hätte er wohl über die merkwürdige Kluft zwischen menschlicher Selbsteinschätzung und harter Lebenswahrheit nachgedacht.
    Da lebst du auf der Welt und bist fest davon überzeugt, dass du Zar und Gebieter über dein eigenes All bist, und im Allgemeinen ist das ja auch so. Aber dein vernünftiges und geordnetes All trennt nur eine hauchdünne Glaswand vom Chaos, und du schwimmst in diesem zerbrechlichen Aquarium wie ein glupschäugiges, ahnungsloses Fischlein. Und dann passiert irgendetwas, was du nicht beeinflussen kannst und was du dir noch nicht einmal hast vorstellen können – und das Aquarium geht zu Bruch, das Fischlein windet sich inmitten der Glasscherben und bläst sinnlos die Kiemen auf. Noch eben warst du Herr über dein Schicksal, erforschtest die Mysterien der Geschichte, warst Befürworter einer gesunden Lebensweise und sauberen Umwelt; du trugst dich mit ehrgeizigen Plänen für die Zukunft und wusstest mit Bestimmtheit, dass du nächstes Silvester auf der Vulkaninsel Teneriffa feiern würdest, da streift dich das Chaos nur ganz leicht mit seinem verrückten, versengenden Atem, und das Glas springt. Der Zar des Alls liegt zusammengekrümmt in einem Müllcontainer, schaut auf die am Himmel ziehenden Wolken und versteht nicht, wieso er noch lebt.
    Da gab es nur eine Erklärung: das berühmte Glück der Fandorins, von dem Großmutter Jelisaweta dem Vater in seiner Kindheit erzählt hatte. Die

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