Die Bibliothek des Zaren
aus der Tülle auf die Tischdecke schwappte.
»Die russische Trägheit und Stumpfsinnigkeit trocknet das Hirn aus und lähmt die Seele! Wenn wir nicht unser Kukuj hätten, wären wir ebenfalls längst verkommen. Wisst Ihr, was für Vorstellungen die Moskowiter von der Wissenschaft haben? Den Kosmos stellen sie sich vor wie Kosmas der Indienfahrer, der die Erde bekanntlich für eine viereckige Scheibe hielt. Als Gipfel der Weisheit, den ein paar Auserwählte hier erklommen haben, gelten die vier Grundrechenarten, aber hohe Zahlen können sie trotzdem nicht teilen, und von Brüchen haben sie erst recht noch nie etwas gehört. Die euklidische Geometrie kennen sie überhaupt nicht, und jemand, der mit Ach und Krach seinen Namen schreiben kann, gilt als gebildet. Letzten Heiligabend habe ich einen Schriftführer aus der Reiterbehörde bei mir bewirtet: Mitjka Iwanow. Dieser Mitjka hat von meinem Tisch eine Miesmuschel mit Schale mitgenommen, um sie zu Hause zu zeigen, und hat dieses Wunder dann in einem Weinpokal aufbewahrt. Da haben seine Kollegen gemeldet, er habe den Teufel in diesem Pokal versteckt. Prompt war es aus mit Mitjka Iwanow, er wurde einen Kopf kürzer gemacht. Da habe ich also ganz umsonst Geld für die Bewirtung und die Präsente ausgegeben.«
Liebenau von Lilienklau stürzte sich auf den neuen Zuhörer – er war nicht zu bremsen. Aber Cornelius wollte ihn auch gar nicht bremsen. Er hielt den Atem an und hörte zu, nur wurde ihm immer beklommener zu Mute. Das musste man schon sagen – Leutnant von Dorn war wirklich schlau, da hatte er das ideale Land gefunden, um sein Glück zu suchen.
»Tagsüber, wenn es am meisten Arbeit gibt, legen sich die Moskowiter alle schlafen«, empörte sich der Oberst. »Ämter und Läden schließen, das ganze Land pennt. Das ist so ähnlich wie die spanische Siesta, da läuft nichts. Nur dass es bei den Spaniern im Sommer heiß ist, während die hier – warum arbeiten die denn nicht?«
»Und wie sieht es mit der russischen Armee aus?«, fragte Cornelius, der schon vorher wusste, dass er kaum etwas Gutes zu hören bekommen würde. »Mein Dienst, wird der schwer sein?«
»Ja, er wird schwer sein, weil der Kompanieführer Owsejka Tworogow ein Dieb und Säufer ist. Ich würde ihn am liebsten fortjagen, kann das aber nicht – der Schuft hat hoch gestellte Gönner. Die Armee der Russen ist das Hinterletzte. Man kann mit ihr keinen Krieg führen, selbst gegen die Polen können sie nicht kämpfen. Wisst Ihr, was für eine Strategie die Moskowiter bei einer Schlacht haben?« Liebenau hob das Wort »Strategie« sarkastisch hervor. »Mit einem entsetzlichen Schrei stürmen sie auf den Feind zu in der Hoffnung, ihm Angst einzujagen. Wenn das nicht klappt, halten sie an und feuern eine Salve aus Gewehren und Pistolen ab. Wenn der Gegner trotzdem keine Angst zeigt, kriegen die Moskowiter selbst einen Schreck, drehen um und ergreifen, einander tottretend, die Flucht. Das ist die ganze Schlacht. Der Erste Minister, der Bojar Matfejew, will eine neue Armee europäischen Typs aufbauen, aber Matfejew hat viele mächtige Feinde, und der Zar«, (bei diesem Wort dämpfte der Hausherr die Stimme), »ist dumm und willenlos, jeder kriegt ihn dahin, wo er ihn haben will. Wenn Ihr in Kitaigorod seid, dann guckt Euch mal die so genannte Zarenkanone an: ein Riesentrumm, das noch nie in einer Schlacht war, weil man damit gar nicht schießen kann. Die Zarenkanone schießt nicht, der Zar regiert nicht. Dieses ganze Land ist eine ungeheure Sumpfblase. Du brauchst nur ordentlich zu pusten, dann platzt sie. Ach, mein Lieber, ich bin ja nicht aus freien Stücken hier gelandet. Ich habe bei dem Litauer Radziwill gedient und bin als Verwundeter in moskowitische Kriegsgefangenschaft geraten, das war vor zwanzig Jahren. Ich hatte keine Wahl: entweder Gefängnis oder dem Zaren dienen. Und welcher Teufel hat Euch hierher verschlagen?«
»Kennt Ihr vielleicht einen gewissen Herrn Faustle, einen Reiter-Obristlieutenant a.D.?«, fragte Cornelius und erinnerte sich an die Versprechungen seines Amsterdamer Bekannten.
»Natürlich kenne ich den«, antwortete Liebenau und winkte ab. »Der ist überhaupt kein Reiter. Ein Spitzbube und Gauner von den ›alten Deutschem ist das. Hat der Euch hierher gelockt? Der verrichtet diesen Judasdienst und streicht dafür ein Gehalt aus der Zarenkasse ein.«
Von Dorn ballte die Hände zur Faust und fragte leise, als fürchte er die Beute aufzuscheuchen:
»Heißt das, Herr
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