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Die Bibliothek des Zaren

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Titel: Die Bibliothek des Zaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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von Dorn für alle Qualen, die er durchgemacht hatte, mit einem tröstlichen Bild entschädigt. Die Abendröte beleuchtete mit ihrem zitternden rosa Licht die Ufer eines Flüsschens, an dem sich die Mühlen nur so drängten, und auf einmal zeichnete sich in der Ferne über einem steilen Hang ein liebliches deutsches Städtchen ab: mit weißen adretten Häuschen, einer Kirchturmspitze, grünen Gärten, und sogar die glitzernde Oberfläche eines schmucken Teiches mit Brunnen war zu sehen. Das Städtchen war dem geliebten Fürstenhof, der nur eine halbe Meile südöstlich vom väterlichen Schloss lag, zum Verwechseln ähnlich. Offenbar wollte die wohlmeinende Vorsehung Cornelius schonen und hatte ihm gnädig den Verstand genommen – von Dorn empfand darüber keinerlei Verdruss.
    »Das ist die neue Deutsche Vorstadt, die von den primitiven Leuten hier Kukuj getauft wurde«, informierte der Dolmetscher. »Sie wurde vor dreiundzwanzig Jahren gebaut. Ist sie nicht eine Augenweide? Sie hat jetzt über dreihundert Höfe, und die Bewohner sind alles angesehene Leute: Offiziere, Ärzte, Uhrmacher und andere Handwerker.« Und kichernd fügte er hinzu: »Wissen Sie eigentlich, Herr Porutschik, warum sie Kukuj heißt?«
    »Warum?«, fragte von Dorn mechanisch, dem klar wurde, dass ihm der verhasste Verstand keineswegs abhanden gekommen war, und der wegen der Anrede Porutschik schmollte.
    »Weil die hiesigen Dienstmädchen, wenn sie die Wäsche im Bach wuschen und die wüsten Moskowiter anstarrten, einander zuriefen: ›Kuck, kuck mal.‹ Daher kommt das also. Ist das nicht lustig?«
    An der Einfahrt hinter dem gestreiften Schlagbaum stand ein Wachposten: mit Helm, Kürass und Hellebarde.
    Er ließ die Strelitzen nach einem Wortwechsel nur widerstrebend durch. Cornelius fiel auf, dass seine Bewacher nicht mehr so einschüchternd auftraten wie in Moskau, sie blieben jetzt dicht beieinander und sahen sich ängstlich um.
    Aus dem Gasthaus – dessen Dach passend zum Namen »Storch und Rad« ein Wagenrad und ein blecherner Storch schmückten – traten zwei eng umschlungene Reiter mit geraden Degen am Gürtel. Der eine zeigte auf die bärtigen Strelitzen und rief:
    »Guck mal, Sepp, die russischen Schweine sind da, wollen ihre Bastwische fürs Schwitzbad verkaufen.«
    Der zweite bog sich und lachte ohrenbetäubend. Die Strelitzen hatten das Gesagte nicht verstanden, rückten aber noch dichter zusammen.
    Am meisten wunderte sich Cornelius über den Dolmetscher. Statt sich über die Beschimpfung als »russische Schweine« aufzuregen, zwinkerte er verschwörerisch und feixte.
    Er zeigte auf ein großes Haus mit rotem Ziegeldach und sagte: »Hier hat der Regimentskommandeur Christian Liebenau von Lilienklau sein Quartier, bei den Russen heißt er ›Oberst Liebenow‹. Ich habe da nichts zu suchen, deshalb empfehle ich mich jetzt und wünsche alles Gute. Wenn Ihr einen Dolmetscher braucht, stehe ich gerne zur Verfügung. Ich heiße Paschka Nemzerow. Ich setze auch Bitt – und Prozessschriften auf. Bei mir ist es nicht teuer: ein Altyn und eine halbe Kopeke.«
    Der Anführer der Strelitzen ging ins Haus, um die Anzeige des Vizeministers abzugeben. Cornelius musste so lange draußen bleiben; vor banger Erwartung krampfte sich sein Herz zusammen.
    ***
    »Ja, junger Mann, da habt Ihr etwas angestellt«, sagte Oberst Liebenau von Lilienklau und rauchte seine Porzellanpfeife, wobei er die Backen aufblies und die gescheckten buschigen Augenbrauen zusammenzog. »Wie kann man nur eine Amtsperson beim Kragen packen, und das auch noch im Dienst, in Gegenwart der Untergebenen! Jetzt droht diese Bestie mit einer Klage wegen Ehrverlust. Das ist schlecht, widerlich. Wenn die Schreiberei erst einmal losgeht, dann kommst du nicht mehr ungeschoren davon.« Wieder schaute er in den Brief, den Lykow geschickt hatte, und sagte zornig ächzend: »Was er nicht alles will, der Wurm, ich soll einen Offizier mit dem Stock züchtigen! Schließlich habe ich kein Strelitzenregiment, sondern bin Kommandeur der Musketiere. Ich bestrafe nicht mit dem Stock, sondern lasse allenfalls Rutenschläge austeilen, und auch das nur bei den niederen Rängen. Dieses gemeine Sklavenland! Pfui! Ich werde diesen Teufel wohl mit drei Rubeln gnädig stimmen müssen, wenn nicht sogar mit fünf – er ist ganz schön außer sich.«
    Der Regimentskommandeur wirkte nur auf den ersten Blick schrecklich. Er knurrte, schimpfte und schlug ein paarmal mit der Faust auf den Tisch, aber

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