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Die Bibliothek des Zaren

Die Bibliothek des Zaren

Titel: Die Bibliothek des Zaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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männlichen Vertreter des Geschlechts der Fandorins, so hatte sie gesagt, würden von einer wohlmeinenden geheimen Kraft behütet, die für eine wunderbare Rettung aus allen Gefahren sorge. Ähnlich wie die berühmte Katze hätte jeder der Fandorins neun Leben, und manche – wie der Großvater Erast Petrowitsch – hätten sogar mehr als neun Leben gehabt.
    Das war natürlich Unsinn. Eine Familienlegende. Sir Alexander hatte mit der Wahl der Fähre »Christiania« nicht gerade Glück gehabt. Und Nicholas selber? Was für eine fantastische, beleidigende Begabung zum Unglück! Es gibt nichts Ärgerlicheres und Absurderes, als ein Opfer der Statistik zu werden. Die Statistik sieht vor, dass einem bestimmten Prozentsatz der Bevölkerung ein Unglück zustößt, beispielsweise, dass einem ein Ziegelstein auf den Kopf fällt. Sagen wir, 0,01 Prozent der Lebenden werden einen Autounfall haben, 0,001 Prozent werden sich mit Enzephalitis anstecken und 0,0001 Prozent ist per Geburt vorherbestimmt, Opfer eines Triebtäters oder Psychopathen zu werden. So zum Beispiel unserem Nicholas A. Fandorin, M A und Bt.
    Wie die neuen Russen sagen, da kannst du nicht gegen anstinken, das ist ein Naturgesetz. Das Stumpfsinnigste und Sinnloseste ist zu jammern: Warum ausgerechnet ich, warum musste das gerade mir passieren? Warum musste der verrückte Brillenträger ausgerechnet heute auftauchen, und warum ausgerechnet im ZaD? Warum hat er unter allen Besuchern ausgerechnet mich herausgegriffen?
    Das heißt, natürlich lässt sich, wenn man nur tief genug gräbt, für alles, was geschieht, eine Erklärung finden. Zum Beispiel folgende: Nicholas war von einem Historiker angegriffen worden, der eine Zulassung zu dem Archiv hatte und langsam aber sicher in dieser depressiven Umgebung verrückt geworden war. Möglicherweise hatte der Unglückliche einen pathologischen Hass auf zwei Meter lange blonde Männer in blauen Blazern. Ein Typ mit genau diesem Aussehen hatte sich vor zwanzig Jahren im Pionierlager über ihn lustig gemacht und dem Kind damals ein tiefes psychologisches Trauma beigebracht. Normalerweise war er unauffällig, aber sobald er einen blauen Blazer sah, wurde er aggressiv. Die Kraft, die dieser schwächliche Brillenträger an den Tag legte, ging entschieden über das Übliche hinaus, war also eindeutig affektiven Ursprungs. Mit was für einer Leichtigkeit er sich den zweihundert Pfund schweren Lulatsch über die Schulter geworfen hatte!
    Oder, was noch wahrscheinlicher war, das Objekt seiner Obsession waren Aktenkoffer von hellem Schokoladenbraun. Denn mit dem Aktenkoffer hatte eigentlich alles begonnen. Ein ganz eigener pathologischer Fetischismus.
    Um Gottes willen, der Aktenkoffer!
    Nicholas fuhr auf, stöhnte und kletterte aus dem tiefen, schmalen Müllcontainer. Vielleicht war es noch nicht zu spät?
    Die Miliz, am Eingang hier steht doch die Miliz! Schnell!
    Drei Stunden später brachte ein gelb-blaues Milizauto den mit einem grünlichen Desinfektionsmittel eingepinselten Magister zum Hotel.
    Die Sache stand schlecht. Man hatte den Spinner im karierten Hemd auf dem Gelände des Archivs nicht gefunden. Entweder hatte er sich Zutritt zu den Kellerdepots verschafft und versteckte sich irgendwo dort in den unzugänglichen Labyrinthen, dann gab es die Hoffnung, dass er früher oder später herauskam oder von einem der Mitarbeiter dort unten entdeckt wurde. Oder er hatte sich bei einem der sechs Eingänge auf wunderbare Weise unbemerkt an den Milizposten vorbeigeschmuggelt, dann konnte er den Aktenkoffer abschreiben.
    Das deprimierte Opfer der Statistik fuhr in einem gläsernen Lift zu sich in den fünfzehnten Stock hinauf und bemühte sich, einen optimistischen Limerick zu verfassen, um seine positive Weitsicht wiederherzustellen. Aber es kam etwas Düsteres dabei heraus, und wie vorhin im Archiv ging es wieder um Körperverletzung.
    »Schließlich kann man das Geschehene auch von einer anderen Warte aus betrachten«, redete Fandorin sich gut zu. Gott hatte ein echtes Wunder gewirkt, so dass er sich eigentlich in Lumpen kleiden, sich wie ein Büßer Ketten anlegen und barhäuptig durch das heilige Russland ziehen müsste. Eigentlich hätte er sich den Kopf an den Ziegelsteinen aufschlagen, sich den Brustkorb an einem Betonblock zerquetschen oder irgendwo, von einer der Metallstangen aufgespießt, hängen bleiben müssen, Stattdessen war er mit ein paar Schrammen davongekommen. Genetisch bedingtes Glück, das ist natürlich

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