Die Bibliothek des Zaren
Quatsch, aber es war nicht zu leugnen, dass er bei seinem Fall vom Dach ein außergewöhnliches, einfach phänomenales Glück gehabt hatte. Das Aquarium war also ganz geblieben, das Leben ging weiter, und wenn das Leben weiterging, dann konnte man es auch in die Hand nehmen und in Ordnung bringen.
Als Erstes musste er sich um Schadensbegrenzung bemühen. Er musste »Barclays« anrufen, um die gestohlenen Kreditkarten sperren zu lassen, und in Auftrag geben, dass ihm über »Western Union« eine Summe Bargeld überwiesen wurde, er brauchte ja irgendwie Geld. Dann musste er sich mit der Botschaft in Verbindung setzen, damit sie ihm als Ersatz für den Pass provisorische Papiere ausstellten. Er musste »British Airways« benachrichtigen, dass er sein Ticket verloren hatte und ein neues brauchte. War das alles?
Nein, das war nicht alles. Es gab etwas, was nicht wieder gutzumachen war: der Verlust von Cornelius’ Testament. Als ob dieses alte Blatt Papier verhext wäre, beziehungsweise nun nicht mehr Papier, sondern die so und so viel Kilobyte umfassende Information im Computerspeicher. Das Ärgerlichste war, dass Nicholas es noch nicht einmal geschafft hatte, das Schreiben des Hauptmanns von Dorn zu lesen. Nur »Dieses vermächtnisz ist fuer meinen son Nikita so.« Was für ein »vermächtnisz«? Wieso »so«? Und warum war später die Rede von »Altyn« und »Bast«?
Wird er das nun nie erfahren? Was für ein fatales Missgeschick! Vielleicht spielt der verrückte Brillenträger mit seiner Beute, bis er es leid ist, und wirft sie dann weg? Der Miliz liegt eine Beschreibung des Aktenkoffers und seines ganzen Inhalts vor. Noch ist es zu früh, um zu verzweifeln.
Er ging über den langen, mit einem Läufer ausgelegten Korridor zu seinem Zimmer Nummer 1531. Öffnete die Tür und blieb in dem engen Vorzimmer vor dem Spiegel stehen. Na, er sah vielleicht aus: der Blazer war mit Kalk und Pappelsaft beschmiert, der Ärmel eingerissen, zwei Knöpfe fehlten. Der Krawattenknoten war verrutscht, das Hemd mit Flecken übersät. Und erst das Gesicht! Dass er auf den Wangen zwei grünlich verschmierte Schrammen hatte, ging ja noch; aber sein Kinn war schwarz, und in den Haaren klebte ein Stück Eierschale. Wie eklig! Entfernen, er musste das sofort entfernen! Und dann unter die Dusche!
Nicholas drückte auf den Schalter, riss die Badezimmertür auf und blieb wie angewurzelt stehen.
Da saß doch tatsächlich der Brillenträger von vorhin mit übereinander geschlagenen Beinen auf dem Klo und lächelte dem erstarrten Magister freundlich zu.
***
Fandorins erste Reaktion war nicht Erstaunen, sondern eine absurde Freude darüber, dass der Dieb des Aktenkoffers gefunden war. Absurd, denn worüber soll sich schon einer freuen, der von der Erschütterung und Panik einen Sprung in der Schüssel davongetragen hat und Gespenster sieht.
»Wo ist der Aktenkoffer?«, fragte Nicholas das Gespenst.
Das Gespenst lächelte:
»Ich dachte, du bist ein Basketball-Spieler, dabei bist du ein Basketball. Das ist ja toll, wie du den Korb getroffen hast, findest du nicht?«
Das Gespenst wackelte begeistert mit dem Schopf, rückte sich mit der rechten Hand die Brille auf der Nase zurecht, hob die linke Hand, und Nicholas sah ein schwarzes, matt glänzendes Rohr mit einem noch schwärzeren Loch in der Mitte.
»Nun hast du aber lange genug gelebt«, sagte der Brillenträger mit freundlichem Vorwurf. »Lass mal andere ran.«
Das Löchlein hob sich noch um einen Zentimeter, so dass es nun Fandorin direkt ins Gesicht blickte, der Finger am Abzug bewegte sich – und, ohne zu überlegen, fuhr Nicholas instinktiv mit dem Kopf zur Seite. Das Rohr knackte, eine heiße Welle streifte noch seine Wange, während hinter ihm in der Wand schon etwas blitzschnell einschlug und der Putz rieselte.
Nicholas war seinerzeit in der Basketball-Mannschaft der Universität Point Guard gewesen, nicht weil er von der Mitte des Feldes aus den Ball direkt in den Korb hätte werfen können und auch nicht wegen seiner Größe (es gab in der Mannschaft noch längere Kerle), sondern wegen seiner hervorragenden Reaktionsgeschwindigkeit und seiner Fähigkeit, sich schnell zu orientieren. Während eines Spiels ging mit dem Magister in spe eine wunderbare Verwandlung vor sich – seine Reflexion schaltete sich vollständig ab. Fandorin hörte auf, mit dem Kopf zu denken; Stattdessen überließ er die Steuerung seiner Handlungen seinen Armen und Beinen, die diese Situation blendend
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