Die Bibliothek des Zaren
sich fast überhaupt nicht, außer dass er gelegentlich die Asche abstreifte.
Als Fandorin seine Schauergeschichte zu Ende erzählt hatte, die sich in dem exklusiven Arbeitszimmer dieses Beamten wie der blühende Schwachsinn eines Drogensüchtigen ausnahm, trat Stille ein. Nur ein japanisches Glöckchen, das in der Zugluft am offenen Fenster hing, bimmelte hin und wieder traurig.
»Sie denken wohl, ich bin übergeschnappt?«, fragte der Magister, um die lange Pause zu unterbrechen. »Sie denken, ich habe einen Verfolgungswahn? Ehrlich gesagt, ich bin mir auch selbst nicht ganz sicher, ob mir das alles . . .«
Pumpkin unterbrach ihn mit einer Geste.
»Nein, Sir Nicholas, ich sehe, dass Sie die Wahrheit sagen. Jedenfalls das, was Sie für die Wahrheit halten. Außerdem bin ich sogar bereit zu glauben, dass Sie nicht die geringste Ahnung haben, warum man Sie umbringen will. Ich habe etliche Jahre in diesem Land verbracht und weiß: Hier ist alles möglich. Absolut alles . . . Und ein Menschenleben ist hier nicht besonders viel wert. Trotzdem gibt es für Ihre Geschichte bestimmt eine völlig rationale Erklärung.«
»Und was für eine?!«, schrie Nicholas. »Das ist mein erster Tag in Moskau! Ich bin ein ruhiger Zeitgenosse, dessen Beruf kaum für jemand von Interesse ist! Was für ein rationales Motiv soll es da denn geben?«
Der Sicherheitsberater seufzte und wackelte mit dem Kopf.
»Ich kann mir mindestens drei vorstellen. Erstens: Man verwechselt Sie mit jemand. Obwohl das wenig wahrscheinlich ist, wenn man bedenkt, dass der Killer in Ihrem Hotelzimmer auf Sie gewartet hat. Zweitens: Sie haben etwas gesehen, was Sie besser nicht gesehen hätten, wissen selbst aber gar nichts davon. Drittens: Jemand Wichtiges ist der irrigen Meinung, Sie hätten etwas gesehen, was Sie besser nicht gesehen hätten. Es gibt doch wer weiß alles . . . Darf ich Ihnen einen guten Rat geben?«
Ein Beamter des Auswärtigen Amtes, der einem einen Rat geben will? Nicholas klimperte vor Erstaunen mit seinen hellen Wimpern. Pumpkin lebte wohl wirklich schon zu lange in Russland und war dadurch etwas russifiziert – man sah ja, er rauchte sogar Papirossy der Marke Belomorkanal.
»Einen Rat?«, fragte er ungläubig.
»Nun ja«, Lawrence Pumpkin erklärte etwas irritiert: »Ich bin doch ein Berater.«
»Ja, ich wäre Ihnen dafür sehr dankbar!«
»Bleiben Sie bis morgen in der Botschaft. Sie können sich auf dieses Sofa hier legen – ich schlafe da manchmal selbst, wenn ich bis spätabends zu tun habe. Gehen Sie nicht aus dem Haus. Die Konsularabteilung ist schon geschlossen, aber morgen früh bekommen Sie einen provisorischen Pass. Meine Mitarbeiter packen Sie dann in den Kofferraum und fahren Sie mit dem Auto direkt zum Flieger nach London. Bringen Sie sich in Sicherheit, Sir Nicholas, solange Sie das noch können. Ich fürchte, wir werden Sie sonst im Zinksarg nach Hause befördern müssen.«
So einen Rat hatte Fandorin nicht erwartet.
»Aber wenn ich jetzt abreise, werde ich nie erfahren, was das alles zu bedeuten hatte, und werde mich mein restliches Leben lang mit Mutmaßungen herumquälen. Und außerdem kann ich doch nicht ohne das Testament von Dorns nach Hause zurückkommen! Das werden mir die Nachkommen nie verzeihen.«
»Ach, Sie haben Kinder?«, fragte der Berater und runzelte die Stirn, als ob diese Tatsache die Angelegenheit noch weiter erschwere.
»Nein. Aber ich werde irgendwann welche haben. Warum fragen Sie?«, erkundigte sich Nicholas, hellhörig geworden.
Pumpkin antwortete nicht sofort.
»Ich weiß nicht, Sir, wer Sie umbringen will und warum. Aber der Wunsch ist doch offenbar sehr stark. Vielleicht steckt die Mafia dahinter. Oder irgendwelche Sicherheitsdienste, von denen es hier jetzt unzählige gibt und von denen jeder seine eigenen Geheimnisse und Interessen hat. Früher war das sehr viel einfacher: Da gab es den KGB und den GRU des Generalstabs, und das war alles. Jetzt durchlebt Russland so etwas wie eine Epoche feudaler Zersplitterung, jeder kleine Fürst hat seinen Stab von Spezialisten zur Durchführung besonderer Aufgaben. Und manche Unterabteilungen übernehmen auch die Ausführung privater Aufträge. Es ist unheimlich schwer geworden zu arbeiten«, beklagte sich Mister Pumpkin. »Ich sage das deshalb, weil es mir nicht gelingen wird, Sie zu schützen. Ich habe gute Beziehungen und kenne viele einflussreiche Leute in den hiesigen Machtapparaten, aber in Ihrem Fall weiß ich einfach nicht, wen man
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