Die Bibliothek des Zaren
bis Fuß an und zuckte die Achseln. Entweder sie wusste es nicht, oder er hatte sich falsch ausgedrückt.
Stehen bleiben durfte er nicht. Fandorin lief zu einer Unterführung und bahnte sich einen Weg durch die dichte Menge, wobei er fieberhaft überlegte, wie er die Botschaft finden könne.
Der als Glückskind geborene Magister war offenbar noch nicht ganz bei klarem Verstand, denn er hatte doch in der Jacke seines Blazers den hervorragenden Baedeker. Während Nicholas weiterging, blätterte er in dem knallroten Büchlein. Da hatte er auch schon die Botschaft: Uferstraße. Quadrat D-7 auf dem Innenstadtplan. Gegenüber vom Kreml. Am linken Ufer der Moskwa. Das war ja ein Katzensprung – eine Viertelstunde oder so zu Fuß!
Über diesen Glücksfall erfreut, ging Fandorin in der Unterführung Richtung Fluss, zielstrebig, aber nicht mehr im Laufschritt, um nicht zu viel Aufmerksamkeit zu erregen.
Schade, dass er so in Eile über den Roten Platz musste. Aber leider stand ihm der Sinn absolut nicht nach Bildern der Geschichte. Dabei hatte sich Nicholas doch so oft vorgestellt, wie er mit einem Zittern den heiligen Platz betritt, diesen Ausgangspunkt des unendlichen russischen Raums! Und er wollte unbedingt noch das Mausoleum aufsuchen, bevor sie die Mumie Lenins, dieses Zerstörers der großen russischen Staatsmacht, endgültig der Erde übergaben.
Obwohl er in Eile war und ihm der Sinn nicht danach stand, drehte er sich doch nach dem Mausoleum um – erst ein Mal und dann ein zweites Mal. Er hätte nicht gedacht, dass dieses Bauwerk so eine große Ähnlichkeit mit den zusammengefügten Steinen aus dem Lego-Baukasten seiner Kindheit hatte.
Was blitzte da hinten in der Menge? Etwa etwas Kariertes, Gelb-Grünes?
»A-a-a!« Dem Magister blieb der Schrei im Halse stecken. Hinter ihm, in einer Entfernung von zwanzig Schritten, folgte der Brillenträger in hurtigem Tempo. Er hatte gesehen, dass Fandorin sich umdrehte, winkte fröhlich, und sein Gesicht hellte sich in einem strahlenden Lächeln auf, als wolle er sagen: Alles in Ordnung, hier bin ich ja.
Nicholas hielt abrupt an, hockte sich hin und drehte an den Hebeln, erst an denen der rechten Plateausohle, dann an denen der linken. Wegen der ausgefahrenen Rollen wurde er nun noch ein paar Zentimeter größer und eilte, die Geschwindigkeit steigernd, über die Pflastersteine dahin, Richtung Basiliuskathedrale. Hinter ihm ertönte ein Pfiff, dann noch einer, aber das störte ihn nicht.
Die Moskoworezki-Brücke brachte er in einem Atemzug hinter sich – durchaus möglich, dass er dabei einen Rekord im Rollschuhlaufen aufstellte. Er hatte ein solches Tempo drauf, dass er, als er nach rechts in die Uferstraße einbiegen wollte, mit dem Schuh an einer Fuge im Asphalt hängen blieb und der Länge nach hinschlug.
Er zog sich eine starke Prellung am Knie zu und zerriss sich die ohnehin unansehnlich gewordene Hose; aber das Ärgerlichste war: An der rechten Sohle hatten sich zwei Rollen gelöst, er konnte unmöglich weiterfahren.
Nicholas schaute sich ängstlich um. Das gelb-grüne Hemd war nicht auf der Brücke zu sehen. Er hatte den Verfolger offenbar abgehängt.
Das Bein mit der Prellung vorsichtig aufsetzend, humpelte er zum rettenden Hort, der Botschaft des United Kingdom of Britain and Northern Irland.
***
Der Sicherheitsberater Lawrence Pumpkin, ein schwerfälliger Mann mit dem schwabbeligen Gesicht einer englischen Dogge und strahlend blauen Augen, musterte den angeschlagenen Besucher mit einem langsamen Blick, kaute auf seinen Lippen herum und fragte leidenschaftslos:
»Was ist mit Ihrer Kleidung passiert, Mister Fandorin, das heißt Sir Nicholas? Und warum haben Sie so grüne Streifen auf den Wangen?«
»Sie müssen verstehen, ich . . . zuerst bin ich in einen Müllcontainer gefallen, und dann bin ich mit meinen Rollschuhen gestürzt«, antwortete Nicholas und wurde rot, denn das klang nun wirklich reichlich idiotisch. Wie aus einem Film mit Max Linder.
Aber der Beamte zeigte nicht die geringste Verwunderung. Im Gegenteil, er kam hinter seinem Schreibtisch hervor, drückte Nicholas fest die Hand und bot ihm an, sich in einem vorsintflutlichen Sessel niederzulassen, der wohl noch Lord Beaverbrook kennen gelernt hatte. Er setzte sich ihm gegenüber, steckte sich eine russische Papirossa an, die er durch Pusten erst einmal zum Brennen bringen musste, und forderte ihn auf:
»Erzählen Sie.«
Er hörte aufmerksam zu, unterbrach ihn kein einziges Mal und regte
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