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Die Bibliothek des Zaren

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Titel: Die Bibliothek des Zaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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– ohne Beteiligung des Intellekts – meisterten. Offenbar war es ihm wegen dieser periodischen Aussetzer seines Verstandes auch nicht bestimmt, ein großer Gelehrter zu werden. Vielleicht hätte er besser den Weg eines Profisportlers eingeschlagen?
    Zweifel dieser Art (die mit Sicherheit zur Kategorie der Reflexion gehörten) überkamen Nicholas recht häufig. Aber diesmal hatte ihm der Aussetzer seines Verstandes das Leben gerettet.
    Ohne weiter darüber nachzudenken, ob der Brillenträger nun wirklich mit einer Pistole auf ihn gefeuert oder ob es sich um eine Halluzination gehandelt hatte, stürzte Fandorin zurück ins Vorzimmer und versteckte sich hinter einem Vorsprung. Gerade rechtzeitig: Der Spiegel zerbarst mit einem Krachen, während sich um ein kleines rundes Loch schwarze Strahlen ausbreiteten. Noch ein Satz, und schon war Nicholas im Korridor.
    Der Lift befand sich rechts, aber das war zu weit, dreißig Meter, das würde er nicht schaffen – die Kugel wäre schneller. Fandorin tat einen Sprung nach links, wo die Treppe war. Auch zu weit! Aber zwei Schritte von der Tür des Zimmers Nummer 1531 entfernt standen zwei brünette Männer mit markanten Nasen und blickten neugierig auf den Mann, der wie der Teufel aus der Tabakdose aus seinem Zimmer gehüpft war.
    »Sorry«, murmelte der Magister und sprang zwischen ihnen hindurch, nicht ohne die harte, fast hölzerne Schulter des einen der beiden orientalischen Männer zu streifen, der kräftig gebaut war und den Schnurrbart keck hochgezwirbelt hatte.
    Der schrie ihm im typisch kaukasischen Tonfall wild hinterher:
    »Ej! Was soll das?«
    Nicholas dachte nicht daran, sich umzudrehen – er rannte, so schnell ihn seine Beine trugen, den schmalen Korridor entlang.
    »Sie spinnen wohl«, schrie dieselbe Stimme noch wütender, und eine andere, helle und fröhliche, die des Brillenträgers nämlich, antwortete:
    »Mille Pardon, Herr Schwili. Mein Freund und ich wollen Bier holen. He, Kolja, renn doch nicht so, wir schaffen das schon noch!«
    »Entschuldige dich erst mal, bevor du losrennst!«, forderte die zweite kaukasische Stimme, die etwas freundlicher als die erste war.
    Was dann kam, konnte Fandorin schon nicht mehr hören, weil er das rettende Treppenhaus erreicht hatte und Hals über Kopf, drei Stufen auf einmal nehmend, nach unten raste.
    Herrgott, segne die Georgier und ihr aufbrausendes Temperament!
    Er hatte gar nicht gemerkt, wie er die fünfzehn Stockwerke heruntergepest war. Nicholas hatte die Fähigkeit zur Reflexion immer noch nicht wiedererlangt, sonst wären ihm wohl die Beine eingeknickt.
    Das war nicht irgendein Spinner! Das war ein Mörder! Und seinen Manieren sowie dem schrecklich knackenden Rohr nach zu schließen ein professioneller Mörder, wie sie Nicholas bisher nur im Kino gesehen hatte. Der Brillenträger wollte gar nicht den Aktenkoffer! Er wollte Nicholas umbringen und hätte das auch fast getan. Zweimal hatte sich Fandorin wie durch ein Wunder retten können: zuerst dank des Müllcontainers, dann dank der beiden streitsüchtigen Georgier. Das machte zwei Katzenleben weniger.
    Im Foyer schob ein Milizionär Wache und musterte den zerzausten Gast streng.
    Nicholas schwankte – sollte er ihn um Hilfe bitten oder lieber, solange es noch möglich war, die Beine in die Hand nehmen?
    Gott sei Dank stellte sich allmählich seine Fähigkeit zur Reflexion wieder ein, und sie forderte ihr Recht. »Was für eine Hilfe!«, sagte sie. Dieser lächelnde Mörder war ohne Probleme auf das Gelände des Archivs gelangt, das von Wachposten mit MGs geschützt wurde, und hatte es genauso problemlos wieder verlassen. Mit derselben Leichtigkeit war er in das Hotel gekommen, vorbei an dem pingeligen Portier und an diesem Milizionär hier. Dabei war er doch durchaus verdächtig gekleidet: das karierte Hemd, die Sportschuhe. Nein, nein, er musste sich in Sicherheit bringen, nichts wie weg!
    Nur wohin?
    Draußen auf der Straße schaute Nicholas fassungslos auf den Strom der Autos, die über die Twerskaja-Uliza schlichen. Noch nicht einmal ein Taxi konnte er nehmen – womit sollte er denn zahlen? Er hatte weder Geld noch Papiere.
    In die britische Botschaft, dahin musste er. Da herrschten Vernunft und Ordnung, da würden sie helfen.
    »Entschuldigen Sie, wissen Sie vielleicht, wo die Botschaft des United Kingdom ist?«, fragte Nicholas ein Mädchen in seiner Nähe, ein winziges, schwarzhaariges, mit streng gerunzelter Stirn. Die schaute ihn perplex von Kopf

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