Die Bibliothek des Zaren
sagte mit schuldbewusst erhobenen Händen:
»Entschuldigen Sie bitte meine Hysterie. Die Nerven – das war heute einfach zu viel für mich. Sie haben natürlich Recht, Sir. In Moskau zu bleiben, wäre dumm und unverantwortlich. Und hätte auch keinen Sinn. Eine Belohnung für die Rückgabe des Dokuments aussetzen, das kann ich ja auch von London aus. Ich hoffe, Sie werden mir dann die entsprechenden Leute nennen, damit ich mich mit ihnen in Verbindung setzen kann.«
Der Berater schaute prüfend in die klaren Augen des Magisters und glaubte ihm offensichtlich.
»Na klar. Natürlich tue ich das. Und ich werde ganz gewiss mit der Zeit auch herauskriegen, wer es auf Sie abgesehen hat. Und dann wird auch klar sein, ob Sie in den Himalaja fahren müssen . . .« Mister Pumpkin stieß den jungen Mann aufmunternd mit dem Ellenbogen und sagte: »Kommt Zeit, kommt Rat. Morgen ist auch noch ein Tag. Ruhen Sie sich erst mal ein wenig aus. Ich lasse Ihnen eine Zahnbürste und frische Wäsche bringen, Sie bekommen eines von meinen Hemden. Der Kragen wird etwas weit sein, und die Manschetten werden Ihnen kaum bis zum Ellenbogen reichen, aber trotzdem besser als Ihre Klamotten.«
»Danke, das ist sehr liebenswürdig«, sagte Nicholas und lächelte gerührt. »Und wo ist bitte die Toilette?«
»Den Gang entlang, die dritte Tür rechts. Haben Sie Lust, mit mir zusammen Abendbrot zu essen? Unser Büfett hier ist recht gut.«
»Mit Vergnügen«, antwortete Fandorin, der schon die Tür aufhielt, lächelte noch einmal, diesmal allerdings etwas verlegen, und sagte: »Ich muss Sie nur vorwarnen, ich habe keinen einzigen Penny.«
»Macht nichts, das wird mich nicht umbringen«, brummte der Berater.
Offenbar war er doch kein Formalist und wichtigtuerischer Bürokrat, aber was änderte das schon?
Nicholas lief schnell über den Gang, ging die Treppe herunter ins Foyer, verabschiedete sich höflich von dem Wachposten und trat in den Hof.
Noch eine halbe Minute, und das beeindruckend schöne Tor der Botschaft lag hinter ihm. Überaus angetan von seinem listigen Verhalten, humpelte Fandorin weiter, neuen Gefahren und Abenteuern entgegen.
Macht nichts. Erst kommt die Ehre, alles andere später.
***
Ein fantastischer Tag neigte sich dem Ende zu. Es dämmerte, in der Uferstraße brannten die Laternen, und am gegenüberliegenden Flussufer strahlte der erleuchtete Kreml in märchenhaftem Glanz. »Das ist sehr schön«, sagte sich Fandorin. Wahrscheinlich eine der schönsten Aussichten der Welt. Und um nicht in eine romantische Stimmung zu verfallen (was unter den gegebenen Umständen nicht ganz angebracht war), fügte er in Gedanken hinzu: statt Geld für die Beleuchtung auszugeben, sollten sie besser den Archiv-Mitarbeitern ihr Gehalt pünktlich zahlen.
Während er Richtung Bolschoi-Kamenny-Brücke hinkte, legte er sich einen Plan zurecht. Wohin sollte er gehen? Ins Hotel? Bei der bloßen Erinnerung an sein Zimmer, in dem auf dem Spiegel das Spinngewebe von der Kugel prangte, zuckte Nicholas zusammen. Nein, nur nicht dahin! Dort lauerte der bebrillte Witzbold am ehesten.
Wohin dann? Zu dem Leiter der Kriminalpolizei, um ihm eine Prämie anzubieten? Was denn für eine, bitte schön, wenn du keinen Heller in der Tasche hast? Und überhaupt, wie sieht denn das aus: Da taucht in der Petrowka-Uliza, Nummer 38 so ein Landstreicher auf, der sich nicht ausweisen kann, und fordert, man möge ihn zu Oberst Nechwatailo vorlassen. Blödsinn! Der reinste Sommernachtstraum!
Nicholas blieb stehen, denn ihm wurde klar, dass er sich höchst unvernünftig verhielt. Man sollte Ehre nicht mit dummer Überheblichkeit verwechseln. Was kann ein Ausländer denn in diesem gefährlichen Land ausrichten – allein, ohne Unterstützung und dann auch noch ohne Geld?
Es gab also keinen Ausweg. Er musste vor dem erfahrenen Sicherheitsberater zu Kreuze kriechen und ihn dazu überreden, Fandorin vor seiner Heimkehr doch noch die Möglichkeit zu geben, mit dem wichtigen Moskauer Kriminalbeamten eine Abmachung zu treffen. Pumpkin war ein gutherziger, kluger Mann und könnte ihm möglicherweise entgegenkommen, wenn er nicht zu böse über den Betrug von Nicholas war.
Vielleicht hatte er es auch noch gar nicht bemerkt, es waren ja erst fünf Minuten vergangen.
Auf der Uferstraße war es menschenleer, nur hinter ihm waren die ruhigen, widerhallenden Schritte eines späten Passanten zu hören. Nicholas seufzte und machte kehrt; er wollte die Waffen
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