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Die Bibliothek des Zaren

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Titel: Die Bibliothek des Zaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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strecken.
    »Kolja!«, brüllte der späte Passant fröhlich. »Was machst du denn hier?«
    Der Magister wich zurück.
    »Was tust du denn so, als ob du einen nicht kennst?«, rief der Brillenträger scheinbar beleidigt. Im Schein der Laterne funkelten seine Gläser, und in der Hand blitzte zudem noch etwas Metallisches auf, offenbar nicht eine Pistole mit Schalldämpfer, sondern ein Messer oder ein Dolch. »Nimm’s nicht so tragisch, wir kommen doch alle einmal dran.«
    Der schreckliche Mensch beschleunigte seinen Schritt, er war jetzt nicht mehr als fünfzig Feet von Nicholas entfernt.
    Fandorin machte kehrt und rannte, das Bein nachziehend, weg, aber er war langsam, zu langsam. Die Rollen waren kaputt, wegpesen konnte er nicht. Herrgott, sollte denn hier an diesem gleichgültigen Fluss, in dieser fremden, feindseligen Stadt alles zu Ende sein?
    Das schnelle Tuckern eines schwachen Motors kam immer näher, laut kreischten die Bremsen auf. Ein Miniauto hielt abrupt am Bürgersteig – Nicholas wusste, dass der Wagentyp »Oka« hieß.
    Die Tür öffnete sich.
    »Nichts wie weg von hier!«, schrie eine Frauenstimme.
    Fandorin, der wieder mal den Ballast der Reflexion abgeworfen hatte, stürzte kopfüber ins Wageninnere, sammelte seine überlangen Beine ein und verstaute seinen Körper mit Mühe auf dem winzigen Sitz.
    Das kleine Auto preschte los, wobei es mit der offenen Tür wie ein Spatz mit seinen Flügeln schlug.
    Nicholas sortierte sich irgendwie. Er klemmte sich die Beine unter das Kinn und saß mit gekrümmtem Rücken da. Die Gestalt auf dem Bürgersteig schickte ihm einen Kuss hinterher.
    »Oh, my God«, stöhnte der Magister auf und wandte sich schnell ab.
    Nein, das musste ein Albtraum sein.
    »Die Tür«, sagte dieselbe Stimme, die gerade eben »Nichts wie weg von hier«, geschrien hatte. Nicholas schlug die Tür zu und drehte sich seiner Retterin zu. Im Halbdunkel sah er ein herbes Profil mit einer kurzen Stupsnase und einem sturen Kinn. Ein Mädchen oder eine junge Frau, dünn und sehr klein. Entweder kannte er sie irgendwoher, oder sie sah irgendjemand ähnlich, wem, daran konnte er sich im Augenblick nicht erinnern. Vielleicht der Schauspielerin Maria Schneider aus dem Film »The Last Tango in Paris«?
    »A Dream, a Midsummer Night’s Dream«, murmelte Nicholas, der fast nicht mehr daran zweifelte, dass er das alles träumte.
    »Bist du wirklich Engländer?«, fragte Maria Schneider und blickte ihn kurz an.
    »Ich bin wirklich Engländer«, bestätigte Fandorin. »Und wer sind Sie? Wie heißen Sie?«
    Die kleine Frau antwortete:
    »Altyn.«
    Diese Antwort beruhigte den Magister sofort. Klar war das ein Traum. Da war also auch dieses unverständliche Wort »Altyn« aus dem Testament von Cornelius aufgetaucht.
    Aber die Liliputanerin wiederholte:
    »Altyn ist mein Vorname. Der Nachname lautet Mamajewa. Und wer bist du? Und warum will dich dieser Spinner unbedingt umlegen?«
    Anlage:
    Der Limerick, den N. Fandorin am 14. Juni gegen halb sechs Uhr abends im Lift des Hotels dichtete:
    In der Schlacht um das Bad Saratoga
Verlor ich ein Bein sowie wei meiner Arme.
Jetzt habe ich‘s nett,
Nur mach ich ins Bett.
Was für’n Schwein, das hat keiner erwartet.

SECHSTES KAPITEL
    Dienst ist Dienst. Die Liebesbräuche der russischen
rauen. Porutschik von Dorn entwirft
eine Disposition. Erscheinung eines Engels
    »Wohin stürmst du denn, du Trottel? Ich habe doch ›Halt!‹ gesagt. Die ersten zehn Mann nalewo! Die zweiten zehn Mann naprawo! Die dritten nalewo! Die vierten naprawo! Die fünften nalewo! Die sechsten naprawo! Die siebten nalewo! Die achten naprawo! Trommel: u-u-nd tra-ta-ta-ta, tra-ta-ta-ta!«
    Cornelius nahm dem Trommler die Stöcke ab, spielte ihm den richtigen Rhythmus vor und fuhr dem Jungen über die Locken, womit er sagen wollte: Keine Angst, du lernst das schon. Der Junge war verständig, er begriff alles im Handumdrehen.
    Die Kompanie marschierte auf dem Dewitschje-Feld – einem entfernten Platz, der hinter dem Pretschistenski-Tor und der Subower Strelitzenvorstadt lag, sie übte die Schwenks einzelner Pelotons ein.
    Die fünf Monate eifrigen Lernens waren nicht umsonst gewesen. Die Soldaten stampften inbrünstig mit den Stiefeln auf die ohnehin schon extrem festgetretene Erde, schwenkten flott aus und machten mutige Glotzaugen. Von Dorn schrie zwar, doch mehr der Ordnung halber – er war zufrieden. Wenn man die Kompanie sah, fiel es schwer zu glauben, dass noch vor weniger als einem

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