Die Bibliothek des Zaren
aufsuchen und an wen man sich wenden muss. Und wenn ich anfange, erst Erkundigungen einzuholen . . .« Und statt zu Ende zu reden, fuhr er sich mit seinem nikotingelben Finger über die Gurgel. Nicholas wurde von dieser Geste übel. »Und auch nach Ihrer Rückkehr würde ich mich an Ihrer Stelle in London in Acht nehmen. Wer weiß, wie ernst die Absichten derjenigen sind, die Ihnen übel wollen. Die können Sie auch in Großbritannien ausfindig machen. Es gibt da Präzedenzfälle . . . Vielleicht können Sie für ein halbes oder ein ganzes Jahr auf eine archäologische Expedition gehen? Nach Südamerika oder in den Himalaja?«
Das war einfach unerhört! Ein staatlicher Beamter, der Vertreter einer Institution, die dazu da war, die Sicherheit der britischen Staatsbürger zu gewährleisten, riet einem unschuldigen Menschen, sich in einem Loch zu verkriechen, sein eigenes Leben und seine berufliche Karriere aufzugeben.
»Ich bin kein Archäologe, sondern Historiker«, unterbrach ihn Fandorin. »Ich weiß nicht, was ich im Himalaja soll. Und von hier reise ich erst dann ab, wenn ich mein Eigentum zurückhabe!«
Er hatte keine Angst mehr. Stattdessen überkam ihn Wut: auf den fiesen Streich, den ihm das Schicksal gespielt hatte; auf diesen ungebetenen Berater, der das lästige Problem nur so schnell wie möglich loswerden wollte; auf dieses morastige, absurde, gemeine Land, in dem die Gesetze des Verstandes und der Logik nicht mehr galten. Der Teufel hatte Cornelius von Dorn hierher getrieben! Warum nur hatte er nicht in seinem Schwaben hocken bleiben können?
Aber Nicholas brauchte nur in Gedanken diese aufrührerischen Worte zu sagen, schon zog er auch gleich wieder den Kopf ein. Ihm schien, als ob sämtliche acht Generationen russischer Fandorins, angefangen mit Cornelius selbst, finster auf ihren nichtsnutzigen Nachfahren blickten und voll Verachtung mit ihrem schnurr-, voll- oder backenbärtigen Kopf wackelnd sagen wollten: »Schäm dich, Nicholas Fandorin. Wage nicht, so über dein Vaterland zu urteilen. Es gibt nichts Schändlicheres als Verrat und Kleinmut.«
Der Berater bewegte die dicken Lippen und wollte den Mund aufmachen, aber der Magister unterbrach ihn auf unhöflichste Weise:
»Ich weiß schon, was Sie mir sagen wollen. Dass hier nicht Großbritannien und nicht Europa ist. Dass die Miliz mich vor diesem bebrillten Cowboy nicht beschützen und meinen Aktenkoffer nicht suchen wird, weil das niemanden interessiert. Dass das hier ein Dschungel ist. Dass die Russen eine unzivilisierte Nation sind, die keine Vorstellung von den Rechten eines jeden Individuums, der Würde des Menschen und Gesetzlichkeit hat. Dass hier alles von Korruption zerfressen ist. Hervorragend! Ich bestreite das nicht! Das stimmt alles!« Er war so aufgeregt, dass er sich dazu hinreißen ließ, mit der Faust auf die dicke Lederlehne zu hauen. »Aber genau das werde ich mir zu Nutze machen. Die Miliz wird das Verlorene nicht suchen, weil sie keinen Anreiz hat? Dann gebe ich ihr eben einen Anreiz! Ich setze eine Belohnung aus für die Rückgabe des Briefes und des Notebooks. Zehn, nein zwanzigtausend Pfund. Oder fünfzigtausend! Wenn es sein muss, auch hunderttausend. Ich verpfände meine Wohnung, nehme ein Darlehen bei der Bank auf, aber ich werde unser Familienheiligtum zurückbekommen! Was meinen Sie, Mister Pumpkin, wird es den Superintendanten der Kriminalpolizei, oder wie er hier bei Ihnen heißt, auf Trab bringen, wenn ich eine Prämie von hunderttausend Pfund in Aussicht stelle?«
Der Sicherheitsberater fing allmählich auch an, wütend zu werden. Er zog die buschigen Brauen zusammen, runzelte unfreundlich die Stirn und sagte:
»Erstens, ich bin absolut nicht der Ansicht, dass die Russen eine unzivilisierte Nation sind. Die Russen sind so, wie es zu erwarten ist, wenn man die Bedingungen berücksichtigt, unter denen sie aufwachsen und leben. Hier herrscht ein anderes sittliches Klima, Sir Nicholas, eins, das rauer und härter als unseres ist. Bei uns wird es einem Menschen sehr viel leichter gemacht, anständig, gesetzestreu, gehorsam und politisch korrekt zu sein. Ja, ist es denn ein großes Verdienst, anständig zu sein, wenn dir von Kindesbeinen an ein Hamburger, ein Dach über dem Kopf und der Schutz der Persönlichkeitsrechte garantiert sind? Ein zivilisierter Mensch zu sein, ist in Russland weitaus schwieriger – das ist eine echte Zivilisiertheit, die man sich hart hat erarbeiten müssen und die einem nicht als Erbe
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