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Die Bibliothek des Zaren

Die Bibliothek des Zaren

Titel: Die Bibliothek des Zaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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in den Schoß gefallen ist wie uns beiden. In den hundert oder hundertfünfzig Jahren passablen Lebens hat sich eine Schicht von Kultur auf unsere britische Haut gelegt, die das primitive Fell schicklich bedeckt. Aber geben Sie sich keinen übertriebenen Illusionen hin, was die europäische Zivilisiertheit betrifft. Eine Kulturschicht, die man ohne jede Anstrengung, nur aufgrund der günstigen geografischen Lage erworben hat, hält nur bis zum ersten starken Windstoß. Glauben Sie mir, ich habe einiges in meinem Leben gesehen. Wenn ein so genannter ziviler Mensch wirklich in Gefahr ist, fällt er binnen Sekunden in den Naturzustand zurück – um zu überleben, kratzt er einen mit den Fingernägeln und beißt nicht schlechter zu als jeder beliebige Russe.«
    Es war nicht zu übersehen, dass Lawrence Pumpkin sich an einer empfindlichen Stelle getroffen fühlte. Der Beamte war puterrot geworden, er plusterte sich auf, und aus seinem Mund stoben Spucketröpfchen. Ob man wollte oder nicht, diese Hitzigkeit war Respekt einflößend. Außerdem erinnerte sich Fandorin an das, was in den Zeitungen über die Katastrophe der Fähre »Christiania« gestanden hatte: von Prügeleien um die Rettungswesten war die Rede gewesen und davon, wie politisch korrekte Briten, Schweden und Dänen die Schwächeren von den Rettungsbooten gestoßen hatten.
    Aber eine Extremsituation, das ist ein Sonderfall, wollte der Magister entgegnen. Ein Mensch kann nicht dafür garantieren, wie er sich angesichts einer tödlichen Gefahr verhält. In dieser Situation brechen die Instinkte durch, während sich Zivilisiertheit darin zeigt, wie eine Gesellschaft tagtäglich miteinander umgeht. Aber kann man die Russen eine zivilisierte Nation nennen, wenn sie sich tagein, tagaus kratzen und beißen, aus jedem beliebigen Anlass und ohne einen auch?
    Das war ein schlagendes Argument, aber wie sich herausstellte, hatte der Berater noch nicht zu Ende geredet.
    »Und zweitens: Ihre Idee mit der Prämie ist gar nicht so schlecht, wenn Ihnen dieses Papier so teuer ist. Es gibt hier zwar keine Superintendanten, aber in der Petrowka-Uliza, Nummer 38, befindet sich das Amt der städtischen Kriminalpolizei, das Oberst Nechwatailo leitet. Ich hätte Sie sogar mit ihm bekannt machen können.« Hier gebrauchte Pumpkin die grammatische Form des Irrealis, aus der hervorging, dass er nicht daran dachte, Nicholas mit Mister Nechwatailo zusammenzubringen. »Die einzige Bedingung dafür ist, dass Sie nicht schon gejagt werden. Hören Sie, Fandorin, es ist jetzt keine Zeit für aristokratische Gefühlsduseleien. Auch wenn es dreihundert Jahre alt ist, ein Stück Papier ist nicht mehr als ein Stück Papier. Sie erzählen etwas von Nachkommen, die Ihnen nicht verzeihen werden. Aber wenn Sie sich weiter in Moskau aufhalten, werden Sie gar keine Nachkommen haben, weil Ihnen gar nicht die Zeit bleiben wird, sich welche zuzulegen. Ihr wunderbares Geschlecht wird aussterben, und keiner wird sich mit den familiären Erinnerungsstücken brüsten können. Fliehen Sie von hier, junger Mann, hauen Sie ab, nehmen Sie die Beine in die Hand.« (Der Diplomat setzte die Reihe der Synonyma mit noch drastischeren Verben fort, von denen der Magister eine Gänsehaut bekam.) »Und je eher, desto besser.«
    »Nein«, protestierte Nicholas und fühlte, mit welchem Stolz ihn sein Eigensinn erfüllte. Die Myriaden von Fandorins, zu denen noch die unzähligen von Dorns hinzukamen, nickten beifällig: »So ist es richtig, Junge. Honor primum, alia deinde. Erst kommt die Ehre, alles andere später.«
    »Gut.« Mister Pumpkin schlug einen offiziellen Ton an. »Sie sind ein britischer Staatsbürger, dem offensichtlich und zweifelsfrei Gefahr droht. Entsprechend den Vorschriften habe ich in einem solchen Fall das Recht, auch gegen Ihren Willen Maßnahmen zu ergreifen, die Ihre Sicherheit gewährleisten. Umso mehr, als Sie sich nicht ausweisen können und Ihre Identität noch festgestellt werden muss. Ich werde Sie bis morgen auf dem Botschaftsgelände festhalten, und morgen früh werden Sie nach London geschickt. Es steht Ihnen frei, sich dann bei den entsprechenden Instanzen über diesen Machtmissbrauch zu beschweren.«
    Es war sofort klar, dass dieser seriöse Gentleman keine leeren Worte machte. Er würde jetzt auf den Klingelknopf drücken, die Wache rufen – und dann wäre es aus, ade Moskau, und damit wäre auch das Testament des Cornelius von Dorn verloren.
    Fandorin seufzte, rieb sich die Stirn und

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