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Die Bibliothek des Zaren

Die Bibliothek des Zaren

Titel: Die Bibliothek des Zaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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und es mit strahlenden Fünkchen durchglühte, eine gewisse Rolle spielte. »Wenn sie doch nur hin und wieder lächelte«, dachte Nicholas, »könnte man sie durchaus als hübsch bezeichnen.« Aus nahe liegendem Grund konnte er nichts mit Frauen anfangen, die klein waren; sie gehörten für ihn gleichsam zu einer anderen biologischen Gattung. Wie soll man auch ein Interesse bestimmter Art für ein Wesen aufbringen, das einem kaum bis zum Zwerchfell reicht?
    Nicholas bemerkte, wie Altyn in den halbdunklen Flur deutete, und als er der Richtung ihres Fingers folgte, vergaß er seine Flausen sofort.
    »Ist das deiner?«, fragte sie mit unnatürlich leiser Stimme.
    Direkt vor der Wohnungstür stand etwas Rechteckiges. Fandorin schrie auf, und zwar sehr viel lauter, als es Altyn eben getan hatte. Der Aktenkoffer! Er stürzte sich auf den Koffer und packte ihn. Es war sein Samsonite, da war nicht dran zu rütteln. Das konnte doch nicht wahr sein!
    Die Wohnungsinhaberin zog an der Klinke, und die Tür öffnete sich mit leisem Quietschen.
    »Ich habe sie doch gestern zugesperrt!«, sagte Altyn mit zitternder Stimme. »Das weiß ich ganz genau. Ich habe zweimal den Schlüssel umgedreht!«
    Sie schlug schnell die Tür zu, hantierte hektisch am Schloss und legte die Kette vor.
    Fandorin trug den Koffer vor sich her – vorsichtig, als handele es sich um eine randvolle Tasse – in die Küche. Bevor er ihn öffnete, kniff er die Augen zusammen.
    Es war alles da. Notebook, Handy, Scanner, Ausweis, Portemonnaie. Und der Brief?!
    Gott sei Dank, da war er! Da, wo er auch vorher gelegen hatte: im Briefumschlag. Er hatte den Eindruck, als habe man den Aktenkoffer nicht geöffnet, oder falls doch, dann hatten sie jedenfalls nichts angerührt.
    Von wegen: und ob sie ihn aufgemacht und die Sachen angerührt hatten. Sie hatten mit Tesafilm einen Zettel an das lederne Federmäppchen geklebt. Darauf stand schwungvoll mit einem Kuli geschrieben: »Mille pardons, Kolja.«
    »Was soll das heißen?«, flüsterte Nicholas. »Ich verstehe absolut nichts.«
    »Hast du dein Erinnerungsstück wiedergekriegt?«, fragte Altyn.
    Sie gab sich Mühe, sicher zu wirken; aber ihre Zähne klapperten immer noch.
    »Die Umstände sind also mehr oder weniger klar«, erklärte die Journalistin. »Sossos Leute haben den Hippie doch noch gefunden, haben mit ihm kurzen Prozess gemacht, und dir dein Eigentum zurückgebracht. Wie sie uns gefunden haben, und wie sie die Tür aufgekriegt haben, ist unklar. Andererseits, was gibt es da schon groß zu öffnen: Das Schloss ist Mist, man kann es mit dem Fingernagel aufmachen. Ich wollte schon lange ein neues anbringen. Nein, die Hauptsache ist etwas anderes. Warum kümmern sie sich auf einmal so rührend um dich?« Sie runzelte die Stirn, schaute auf den Koffer und sagte auf einmal, mit den Fingern schnalzend: »Hoppla!«
    »Was ist denn?«, fragte Nicholas erschreckt.
    »Ich verstehe! Offensichtlich geht es gar nicht um dich, sondern um deinen Aktenkoffer. Genauer, um das Testament deines gnädigen Herrn von Sowieso. Na klar! Der Hippie wollte vor allem an das Papier kommen und erst in zweiter Linie dich umbringen. Damit du keinen Ärger machst und niemand störst. Hör mal, was steht denn eigentlich auf diesem Papierchen? Was soll denn das ganze Affentheater?«
    Sie reckte neugierig den Hals. Fandorin konnte gerade noch rechtzeitig mit der Hand den Zettel verdecken, aus dem hervorging, dass die Hypothese der Journalistin nicht stimmte und der schreckliche Mann quicklebendig war.
    »Wir gucken uns jetzt an, was bei dem Puzzle aus den zwei Hälften herauskommt«, sagte der Magister munter und holte das Notebook heraus.
    Anlage:
    Der Limerick, den N. Fandorin in der Nacht vom 14. auf den 15. Juni auf dem Esstisch dichtete:
    In die mystische Enge des Sarkophages
Drang am Morgen ein Strahl des Tages.
Nekrophile, die gab
Es am offenen Grab
Des Gastes der russischen Hauptstadt in Scharen.

ACHTES KAPITEL
    Der neue Dienst. Der Hof des hohen Herrschers.
Große Moskauer Politik. Träumen ist nicht
verboten. Neujahrsfest nach europäischer Sitte. Fun-
kelnder Mond auf einem Stückchen Stahl
    Im Vergleich zum vorigen hielt der neue Dienst sehr viel mehr Schwierigkeiten und schlaflose Nächte für ihn bereit, aber es wäre eine Sünde gewesen, sich zu beschweren.
    Die Kompanie, die er hatte, war einfach vorbildlich. Sämtliche Soldaten waren gedrillt, satt, benahmen sich anständig und sahen stattlich aus, jeder schätzte seinen

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