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Die Bibliothek des Zaren

Die Bibliothek des Zaren

Titel: Die Bibliothek des Zaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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geschliffen sind. Er war zufrieden. Er lobte den Hauptmann und schenkte ihm ein paar Zobelfelle im Wert von zehn Rubeln. Nicht schlecht, oder?
    Cornelius’ Aufgabenbereich sah so aus: Seine Hauptaufgabe (darüber war nicht gesprochen worden, weil es selbstverständlich war) bestand darin, den Bojaren, sein Anwesen und seine Familie zu beschützen; außerdem hielten die Musketiere im Wechsel mit den Strelitzen der berittenen Leibwache des Zaren und den Lanzenträgern des Fürsten Miloslawski im Kreml Wache. Manchmal musste von Dorn als Offizier vom Dienst bei Gelagen des Zaren und Empfängen für Gesandte an der Tür Wache stehen. In strahlendem Kürass und mit gezücktem Degen in der Hand stand er reglos da wie eine Statue; obwohl er scheinbar nicht mit der Wimper zuckte, sah und beobachtete er vieles. Ihm schmeichelte, dass er der Einzige in dem Riesensaal war, der eine Waffe trug, wenn man von den hochaufgeschossenen Leibwächtern des Zaren mit ihren symbolischen silbernen Äxten absah. Nicht nur denen, die zum Hof gehörten, sondern sogar den ausländischen Gesandten nahm man beim Betreten des Palastes den Degen ab. Wer mit einem Degen oder auch nur Dolch vor den lichten Augen des Zaren erschien, dem war die Todesstrafe sicher, da gab es kein Erbarmen. Keiner durfte das, nur Hauptmann von Dorn durfte, ja er musste sogar. So groß war also das Vertrauen, das man in ihn (oder genauer: in Artamon Sergejewitsch) setzte.
    In den ersten zwei Monaten seines neuen Dienstes sah sich Cornelius satt an der Kreml-Stadt, an den höfischen Ritualen und an dem Zaren, Großfürsten und Selbstherrscher ganz Russlands höchstpersönlich.
    Der Kreml war ein großes Schloss, mit dreifachen Mauern und einem tiefen Graben, und wenn es zu einer Belagerung kam, war es nicht schwer, ihn einzunehmen. Die ganze Festung war von alter Machart, aus Ziegelsteinen, ohne einen einzigen Erdwall. Wenn man eine richtige Kanonade aus modernen Geschossen veranstaltete, flögen Mauerstückchen in alle Himmelsrichtungen und verstümmelten und töteten die Verteidiger. Auch die Glockentürme waren zu hoch; man brauchte diese Klötze nur mit einer gezielten Kanonensalve zum Einsturz zu bringen, dann begrüben sie die halbe Zitadelle unter sich.
    Im Innern wirkte der Kreml nicht wie die Residenz eines Monarchen, sondern wie ein Ameisenhaufen. Er bestand aus einer sinnlosen und unordentlichen Anhäufung hölzerner und steinerner Bauten, die durch offene und geschlossene Galerien miteinander verbunden waren. Die Gemächer waren größtenteils baufällig und verzogen. Über den Dächern ragten Türmchen, Zwiebelkuppeln, Kringel, Wetterfahnen; aber all diese Pracht hielt nur bis zum ersten großen Feuer. Eine einzige Brandbombe aus einem polnischen oder schwedischen Mörser reichte, und von der Zarenfestung bliebe nur ein Haufen verkohltes Holz.
    Wache stand man am besten am Abhang des Kremlhügels, wo ein oberer und ein unterer Garten angelegt waren, in dem es Teiche und Orangerien mit seltenen Früchten gab – sogar im Winter wurden Weintrauben, Zitronen, Erdbeeren geerntet. Dort hatte Cornelius auch ein paarmal den Herrscher gesehen, fern von Bojaren und Adeligen. Seine Majestät liebte es, durch diese paradiesischen Gärten zu spazieren, er pflückte eine Pomeranze oder eine Pflaume vom Zweig, biss hinein und warf sie fort.
    Der Zar, Großfürst und Selbstherrscher ganz Russlands, Alexej Michailowitsch, von den Russen der Stille genannt, war rotwangig, blauäugig und hatte einen kreisrunden dunkelroten Bart. Schwer an seinem fetten Leib tragend, watschelte er auf seinen schwachen, angeschwollenen Beinen daher. Durch die Orangerie lustwandelte Seine Majestät fröhlich, er lächelte und summte geistliche Lieder oder etwas Leichteres vor sich hin. Als Cornelius das erste Mal durch die dicke Scheibe mit den feinen Rahmen geblickt hatte, war er sehr verwundert, wie wenig dieser gutmütige Dickwanst dem steinernen Götzen glich, der im Schloss die ausländischen Gesandten empfing. Bei der Audienz saß der Zar reglos da wie eine goldene Puppe und bewegte noch nicht einmal die Augen. Als sei er gar kein lebendiger Mensch, sondern eine allegorische Figur, welche die Schwerfälligkeit und Unbeweglichkeit des Dritten Roms verkörperte.
    Dabei war Seine Majestät der Zar, wie von Dorn bald verstand, trotz seiner Schwerfälligkeit sehr beweglich und auf alle möglichen Amüsements versessen. Die junge Zarin Natalja, ein Zögling und eine Verwandte von Artamon

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