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Die Bibliothek des Zaren

Die Bibliothek des Zaren

Titel: Die Bibliothek des Zaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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kennen lernen willst, dann ziehe ich den Tisch aus, er ist lang.«
    So schlugen sie denn auch ihr Lager auf: sie im Bett, er auf dem Tisch. Sie löschten das Licht. Nicholas wünschte der Wohnungsinhaberin Gute Nacht und wartete vergeblich auf eine Reaktion. Eine Weile herrschte Ruhe.
    Dann kicherte Altyn Mamajewa los und sagte:
    »Nicholas Fandorin. Das ist ja vielleicht ein Name. Und wie nennen dich deine Freunde? Nick?«
    »Nein, alte Freunde nennen mich Nif-Nif. Das ist so eine Gestalt aus . . .«
    »Weiß ich«, unterbrach sie ihn. »In Russland liest man ebenfalls Bücher. Mehr als bei euch in England . . . Nein, Nif-Nif kann ich dich nicht nennen, von einem kleinen Schweinchen hast du nichts. Du siehst wie ein Igel im Nebel aus.«
    »Wie kommen Sie denn darauf?«, fragte Nicholas verwundert. »Gut, im Nebel, das verstehe ich. Aber wieso Igel? Finden Sie mich stachelig?«
    »Dich Kolja zu nennen, bringe ich nicht über die Lippen«, fuhr sie nachdenklich fort, ohne die Frage zu beachten – mit der Erziehung haperte es bei Altyn Mamajewa in der Tat etwas. »Du und Kolja, nein . . . Nicholas, so einer begegnet einem bei Dickens. Ich werde dich Nick nennen, okay? Und hör auf, mich zu siezen. Das ist altmodisch. Du würdest doch glatt auf die Idee kommen, mich auch noch mit meinem Vatersnamen anzureden: Altyn Farchatowna.«
    »Ach so, dann sind Sie . . . bist du also eine Tatarin?«, erriet Nicholas.
    Dann war auch klar, woher die hervorstehenden Backenknochen und die mandelförmigen Augen kamen.
    »Mein Vater war ein böser Tatar«, antwortete sie finster. »Er hat mich mit diesem Namen beglückt. Ich bin Moskauerin.«
    »War er wirklich böse?«
    Fandorin stellte sich eine unglückliche, ungeborgene sowjetische Kindheit vor: der Vater Alkoholiker, das Leben in einer Gemeinschaftswohnung, Ferien im Pionierlager. Wie sollte das arme Mädchen da lächeln gelernt haben!
    »Nein, war er nicht. Er war klug. Wollte, dass ich mich nicht schäme, eine Tatarin zu sein, und mich zur Wehr setze. Was ich auch musste . . . Meinst du, es ist leicht, Altyn Mamajewa in einer Schule in Beskudniki zu sein? Als ich klein und dumm war, schämte ich mich für meinen Namen. Ich wollte Alla genannt werden. Aber da zogen sie mich nur noch mehr auf. Und nannten mich ›Solotucha‹, ›Pickelliese‹. Das lag daran, dass ich mich idiotischerweise damit gebrüstet hatte, Altyn bedeute auf Russisch ›Soloto‹, also Gold, und außerdem hatte ich Pickel. Da war es dann nicht mehr weit zu ›Solotucha‹, ›Pickelliese‹. Sie nannten mich auch noch ›Kopeke‹ und ›Poluschka‹, also ›Viertelkopeke‹, weil ich so klein war.«
    Die lebhafte Fantasie des Magisters führte ihm ein dunkles Mädchen in blauer Schuluniform und Pionierhalstuch vor Augen: Sie war hässlich, verschlossen, die Kleinste in der Klasse.
    »Lassen wir das«, knurrte Altyn brummig. »Meine Autobiografie kann ich dir auch noch später erzählen. Wenn du dann noch lebst.«
    Diese grausame Bemerkung ließ Fandorin aus seiner sentimentalen Stimmung in die Wirklichkeit zurückkehren. Er wälzte sich hin und her, stöhnte und dachte: Da liege ich hier auf dem Tisch wie ein Toter. Und morgen werde ich vielleicht schon auf dem Tisch im Leichenschauhaus liegen und mich um nichts mehr sorgen – »Da steige ich vielleicht hinab in der mystischen Enge Grab.«
    Nein, wenn schon Lyrik, dann lieber einen Limerick . . .
    Und nachdem er einen wahnsinnig holperigen Fünfzeiler verzapft hatte, fragte er lässig:
    »Und was sollen wir morgen machen? Hast du irgendeinen Vorschlag?«
    »Ja, klar«, antwortete die Stimme aus der Finsternis. »Ich hab deinen Hippie ein paarmal geknipst. Ich fahre in die Redaktion und mache Abzüge. Dann schaue ich bei einem Bekannten in der Petrowka-Uliza vorbei und zeige sie ihm. Vielleicht klärt sich dann etwas.«
    Die Gedanken des Magisters der Geschichte gingen in eine masochistische Richtung. Ein beschämender Kontrast: die kleine Frau großen Kalibers und der Riesenkerl kleinen Kalibers (zum Teufel mit der Lästerzunge von Professor Crisby). Ein Unterschied wie Tag und Nacht: Nicholas fehlten zwei Zentimeter, um die Zwei-Meter-Marke zu erreichen, das energische Mädchen war über die Grenze von anderthalb Metern um einen Zentimeter hinaus. Es ging nicht um die Zahl der Meter, es ging darum, dass es ihm an etwas fehlte, während sie ihm etwas voraushatte. Dieses junge Ding redete mit ihm, als ob sie die Erwachsene und er der Jugendliche wäre,

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