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Die Bibliothek des Zaren

Die Bibliothek des Zaren

Titel: Die Bibliothek des Zaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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obwohl er vermutlich zehn Jahre älter als sie war.
    »Sie ist richtig professionell«, dachte Nicholas neidisch. »Sie hat überall ihre Leute, ist viel herumgekommen, weiß viel. Sie hat einen interessanten, gefährlichen Job, eine richtige Arbeit.«
    »Was macht denn eigentlich ein Scout?«
    »Wir haben eine ganz neue Art von Zeitschrift«, begann Altyn zu erzählen. »Wir stechen die Konkurrenz mit unserem Professionalismus aus. In anderen Redaktionen machen die Journalisten alles allein: beschaffen sich die Quellen, sammeln das Material, prüfen es, schreiben die Artikel. Unser Chefredakteur dagegen hat sich das Prinzip von Henry Ford zu Eigen gemacht: Jeder hat seinen festen Platz am Fließband. Der Scout ist spezialisiert auf das Sammeln und Prüfen der Informationen. Der Writer ist ein Meister der Komposition und des Stils. Es gibt einen Headliner, der nur für die Überschriften zuständig ist. Es gibt einen ›Dummkopf vom Dienst‹, das heißt jemand, dessen Ausbildungsniveau nicht über das Fernstudium an einer Fachschule für Sport hinaus – geht; er bezieht sein Gehalt dafür, dass er die ganze Zeitschrift durchliest und anstreicht, wenn er etwas nicht kapiert. Diese Stellen werden dann von einem Schlussredakteur – so einen haben wir auch – umgetextet.«
    »Aber das ist doch ungerecht!«, empörte sich Fandorin. »Du machst die Hauptarbeit und trägst ein großes Risiko, und Kusma heimst den Ruhm und das Geld ein. Was braucht man da denn schon für einen Writer! Der muss ja schließlich nicht den Jewgeni Onegin schreiben. Würdest du das recherchierte Material denn schlechter als er darstellen? Und selbst wenn du es schlechter tätest, das sind doch deine Informationen und nicht seine.«
    Von den erschütternden Erlebnissen, der fortgeschrittenen Zeit und dem harten Lager war die Willenskraft des Magisters herabgesetzt, und er gab dem ewigen Sog nach, Ratschläge zu erteilen:
    »Ich weiß nicht, Altyn, was du bei dieser verwickelten Geschichte herausbekommst, aber das sieht doch ganz nach einer sensationellen Story aus. Ein bekannter Bankier, der sich eine Kampftruppe hält, ein professioneller Killer und ein Engländer, der plemplem ist. Wenn wir beide da genau durchblicken, musst du zu deinem Chefredakteur gehen und sagen: ›Wollen Sie einen absoluten Knüller? Umwerfendes Material, das in allen Fernsehkanälen für Wirbel sorgen wird? Ich besitze solches Material. Nur schreiben will ich selbst und nicht irgendein Writer. Und wenn nicht, dann veröffentliche ich es eben in einer anderen Zeitschrift.‹ Entschuldige meine Taktlosigkeit, Altyn, aber deiner Wohnung und deinem Auto nach zu urteilen, zahlen sie dir beim ›Teleskop‹ nicht besonders viel, so dass du eigentlich nichts zu verlieren hast. Du brauchst dem Chef nur anzudeuten, was das für ein Material ist. Dann kann er gar nicht anders! Er wäre ein Idiot, wenn er ablehnte. So plemplem kann er gar nicht sein!«
    Er hatte sich ungebeten mit einem Ratschlag aufgedrängt – und bekam eins übergebraten, wie er es verdient hatte.
    »Scher dich zum Loch Ness mit deinen Ratschlägen«, reagierte Altyn Mamajewa sauer, und damit war das Gespräch beendet.
    ***
    Er wachte von einem leisen, aber durchdringenden Ton auf, dessen Ursprung unklar, dessen Sinn aber eindeutig war: Es musste etwas Alarmierendes geschehen sein.
    Nicholas öffnete die Augen, setzte sich auf dem Tisch auf (trotz der vielen Unterlagen war sein Körper geschwollen und steif), sah das leere Bett, das von der Morgensonne beschienen war, und begriff erst jetzt, im Nachhinein, dass Altyn einen Schrei ausgestoßen haben musste.
    Ein derartiger emotionaler Ausbruch lag der kleinen Journalistin so fern, dass Fandorin sofort hellwach war.
    »Altyn!«, rief er, sprang auf den Boden und stürzte vom Zimmer in den Flur.
    Altyn, die einen rosa Schlafanzug anhatte, drehte sich um. Ein heller Sonnenstrahl, der aus der Küche kam, fiel auf ihre etwas zerknitterte Wange. Hinter dem Mädchen, im Flur, war es finster.
    »Nur die Ruhe«, sagte Altyn mit angespannter Stimme. »Bitte ohne englisches Temperament, ja?«
    Und sie presste sofort wieder die Lippen aufeinander, riss die Augen aber dafür ganz weit auf, und sie kamen Fandorin auf einmal sehr schön vor.
    Es war, als sähe er seine Beschützerin zum ersten Mal, und da stellte sich heraus, dass sie alles andere als schlecht aussah – wobei allerdings nicht auszuschließen ist, dass der Heiligenschein, den die Sonne um ihr Haar legte

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