Die Biene Maja
es gingen sanfte Wogen darüber hin; das tat der schüchterne Sommerwind, der so liebreich wehte, um nirgends die Ruhe der schönen Welt zu stören.
Ein paar kleine braune Schmetterlinge spielten unter der Birke über dem Korn 'Von Mohn zu Mohn'. Das ist unter jungen Schmetterlingen ein sehr beliebtes Gesellschaftsspiel. Jeder Schmetterling setzt sich auf eine Blume, und es muß ein Spieler mehr da sein, als Blumen in der Nähe stehen. Dieser eine sitzt in der Mitte des Kreises und ruft. Wenn sein Ruf erklingt, müssen alle auffliegen und die Blumen wechseln. Wer zu spät kommt und keine Blume mehr findet, wird in die Mitte geschickt und muß abrufen. Das war sehr unterhaltend.
Maja sah eine Weile zu, es machte ihr viel Vergnügen. Das könnte man auch die kleinen Bienen im Stock lehren, dachte sie, da nennen wir es dann 'Von Zelle zu Zelle'. Aber Kassandra wird wahrscheinlich zu streng sein.
Die kleine Maja wurde plötzlich traurig gestimmt, das kam sicher durch ihre Erinnerung an die Heimat. Als sie darüber nachdenken wollte, sagte neben ihr jemand:
»Guten Morgen. Sie sind eine Bestie, wie mir scheint.«
Die kleine Maja erschrak sehr und drehte sich rasch um.
»Nein,« sagte sie, »bestimmt nicht!«
Neben ihr saß eine kleine braune Halbkugel mit sieben schwarzen Punkten darauf. Unter dieser rotbraunen Kuppel, die übrigens prächtig glänzte, sah man ein winziges schwarzes Köpfchen, in dem zwei helle Äuglein funkelten, und nun erkannte Maja auch die dünnen Beinchen, die, fein wie Fäden, unter der punktierten Kuppel hervorschauten und sie so gut trugen als sie eben konnten. Dieser kleine Dicke war es, der Maja angerufen hatte. Trotz seiner seltsamen Gestalt gefiel er der Biene ausgezeichnet, er hatte etwas gradezu Anmutiges.
»Wer sind Sie nur?« fragte sie, »ich selbst bin Maja, vom Volk der Bienen.«
»Wollen Sie mich beleidigen?« fragte der Kleine. »Dazu liegt kein Grund vor, das merken Sie sich.«
»Aber wie sollte ich dazu kommen?« fragte die kleine Maja ganz erschrocken, »ich kenne Sie in der Tat nicht.«
»Das kann jeder sagen«, meinte der Dicke. »Nun, ich will Ihrem Gedächtnis nachhelfen. Zählen Sie.« Und der Kleine begann sich langsam umzudrehn.
»Soll ich Ihre Punkte zählen?«
»Ja, bitte schön«, sagte der Käfer.
»Es sind sieben Punkte«, sagte Maja.
»Nun?« fragte der Käfer, »also? Sie wissen es immer noch nicht? So will ich es Ihnen sagen. Ich heiße genau so, wie sich nachzählen läßt. Ich gehöre zur Familie der Siebenpunkte, heiße Alois und bin meines Zeichens Dichter. Die Menschen nennen mich auch Marienkäfer. Das ist ihre Sache. Aber das wissen Sie ja jedenfalls.«
Maja wagte nicht nein zu sagen, denn sie fürchtete Alois zu kränken.
»O,« sagte Alois, »ich lebe vom Sonnenschein, vom Frieden des Tages und von der Liebe der Menschen.«
»Aber essen Sie denn nichts?« fragte Maja überrascht.
»Doch, Blattläuse. Sie nicht?«
»Nein,« sagte Maja, »das ist doch ...«
»Was ist es denn? Wie?«
»Es ist nicht üblich«, sagte Maja schüchtern.
»Natürlich!« rief Alois und versuchte die eine Schulter hochzuziehen, was ihm aber wegen seiner festen Kuppel nicht gelang, »Sie tun als Bürgerliche selbstverständlich nur das, was üblich ist. Damit kämen wir Dichter nicht weit. Haben Sie Zeit?«
»Doch,« sagte Maja, »gewiß.«
»Dann werde ich Ihnen eine Dichtung vortragen. Sitzen Sie still und schließen Sie die Augen, damit die Umgebung Sie nicht stört. Das Gedicht heißt 'Der Menschenfinger'. Es ist ein persönliches Erlebnis und von mir. Hören Sie?«
»Ja,« sagte Maja, »jedes Wort.«
»Also:
Der Menschenfinger
Einmal hast du mich entdeckt,
als ich Glück im Leben hatte.
Du bist rund und langgestreckt.
Oben hast du eine glatte,
zugespitzte Panzerplatte,
welche sich bewegen läßt,
aber unten sitzt du fest!
Nun?« fragte Alois nach einem kleinen Schweigen. Er hatte Tränen in den Augen und seine Stimme zitterte.
»Der Menschenfinger hat mich sehr ergriffen«, meinte Maja, die etwas verlegen geworden war. Eigentlich kannte sie schönere Lieder.
»Wie finden Sie die Form?« fragte Alois und lächelte wehmütig. Er war sichtlich durch die Wirkung überwältigt, die er hervorgebracht hatte.
»Rund und langgestreckt«, antwortete Maja. »Sie haben es ja selbst gedichtet.«
»Ich meine die künstlerische Form, ich meine die Form meiner Dichtung.«
»Ah,« sagte Maja, »ach so. Ja, die finde ich gut.«
»Nicht wahr?« rief Alois.
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