Die Bienenkönigin
Anbau für Talbots Archiv entstanden. In Talcilla hatte Talbot
seine Meisterwerke geschaffen, und dieser Ort repräsentierte noch in winzigsten Einzelheiten unser Privat- und unser Arbeitsleben
– unsere Partnerschaft. Von all unseren Besitztümern war es dasjenige, das ich am meisten liebte.
Es war eine herzzerreißende, obschon richtige Entscheidung, aus Talcilla nach Talbots Tod ein Museum zu machen, wo die gegenwärtige
Generation ebenso wie die zukünftige den Hort seines Genies besuchen konnte. Die Betreuung des Projekts erforderte meine ganze
Kraft, aber am meisten belastete mich, dass ich immer wieder den Tag aufschob, an dem ich den Anbau, der sein Archiv beherbergte,
den Kuratoren übergeben sollte – eben das nämlich würde ein endgültiges Loslassen bedeuten … Also zögerte ich es hinaus. Bis
ich in einer Sommernacht wie eine Schlafwandlerin aufstand, einen Morgenrock übers Nachthemd warf, barfuß aus dem Haus über
den Rasen lief und schließlich zitternd an der Metalltür des Anbaus lehnte. Ich schloss sie auf und trat in den Raum, der
mir so vertraut war, den ich aber seit Talbots Tod nicht mehr aufgesucht hatte. Wie benommen betrachtete ich die Einbauelemente, |12| die so gestaltet waren, dass sie großformatige Architekturzeichnungen aufnehmen konnten, und an der anderen Wand Dokumentenbehälter,
die dort standen, wie er sie zurückgelassen hatte. Ich ging an ihnen entlang, berührte die Aufkleber und hielt inne bei einem,
der von ihm als »Privat« gekennzeichnet war. Darin: Briefe, säuberlich gestapelt und mit Bindfäden verschnürt, Briefe von
den Eltern, von einer Schwester, ein Brief in einer Handschrift, die kaum zu entziffern war – meine eigene Schrift, damals
in der Schulzeit. Er hatte alle aufbewahrt. In tadellosem Zustand, akkurat gestapelt, einer auf dem anderen. Wahllos nahm
ich einen zur Hand, öffnete ihn und strich mit dem Finger über die blütenweißen Initialen meines Mädchennamens, die den bonbonrosa
Briefbogen krönten.
Lieber Talbot,
da bin ich nun nach den himmlischen Weihnachtsferien wieder in der Schule, aber ich denke an nichts anderes als an unsere
Begegnung beim Metropolitan Dance. Meine dicke Zimmergenossin hingegen denkt nur ans Essen. Sie will über nichts anderes sprechen
als über Hot-Fudge-Eisbecher.
Alles, worüber ich sprechen möchte, bist Du. Bitte schreib mir bald.
In Liebe,
Priscilla
PS Wie gefällt Dir mein neues Briefpapier?
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Lieber Talbot,
warum höre ich nichts von Dir? Na ja, auch ich bin sehr beschäftigt. Hier ist eine Menge los. Die Randolphs gaben eine große
Party, und von überall her kamen Freunde, um das Hochzeitsfest zu feiern. Prickelwasser in Strömen und massenhaft Verehrer
(eifersüchtig?). Montag kam dann Ginny, und so folgte eine Party auf die andere.
Letztes Wochenende waren wir in den Adirondacks, und damit Du siehst, dass ich eigentlich ein sehr ernsthafter Mensch bin,
schicke ich Dir ein Geschenk, das ich in einem Laden am Tupper Lake fand. Ein Sackleinenkissen mit einer Fichte, handgemalt
in Öl und mit dem Spruch »Spruce up and come – I balsam« (bawl some). Mit echten Fichtennadeln gefüllt. Ich war versucht zu
schreiben, ich hätte dieses kitschige Kissen selbst bemalt, aber ich werde Dich niemals belügen. Also leg Deinen lieben Kopf
darauf zur Ruhe und träume von Pris. Aber warum nicht auf den Wink reagieren? – Mach Dich fein und verbring das nächste Wochenende
in den Ads. Es wird bestimmt lustig.
In Liebe,
Pris
Talbot, Liebling,
hast Du je Emersons Essay »Kreise« gelesen? Darin schreibt er: »Unser Leben ist eine Lehrzeit für die Erkenntnis der Wahrheit,
dass um jeden Kreis ein anderer
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gezogen werden kann; dass es in der Natur kein Ende gibt, sondern jedes Ende ein Anfang ist; dass aus jeder Mittagsstunde
ein neuer Tag entsteht und dass unter jeder Tiefe sich noch eine tiefere Tiefe auftut.« Ach, mein Liebster, wenn ich das lese,
muss ich an uns denken. Wie es sein wird, wenn Du mir den Ehering über den Finger streifst, denn unsere Ehe wird ein niemals
endender Kreis der Wahrheit sein.
Mit inniger Liebe,
Pris
Unter meinen Briefen kam ein weiterer Stapel zum Vorschein, verschnürt mit purpurrotem Ripsband – taubengraue Umschläge, mit
purpurroter Tinte von unbekannter Hand beschriftet – Mr. Talbot Bingham, Box 964, Easton, Maryland. Ich drehte einen Umschlag
und las den Absender – Akeru, Montecito,
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