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Die Bischöfin von Rom

Die Bischöfin von Rom

Titel: Die Bischöfin von Rom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Böckel
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letzte Wegstück zurückzulegen. Sie wollte sich zunächst sammeln, ehe sie zum Strom hinabstieg, und der im Spätnachmittagslicht daliegende Wingert war dafür genau der richtige Ort.
    Zwischen zwei knorrigen Rebstöcken ließ sie sich auf die von der kräftigen Frühlingssonne durchwärmte Erde nieder. Tief atmete sie den Pflanzenduft ein und lauschte auf das Summen der Hummeln; dann schloß sie die Augen und erinnerte sich an die vergangenen Wintermonate.
    Nach dem Ende des tagelang anhaltenden Schneesturmes hatte es tatsächlich einige Wochen gedauert, bis sie wieder auf die Beine gekommen war. Dankbar dachte sie daran, mit welch liebevoller Zuwendung Samira sich die ganze Zeit um sie gekümmert hatte. Doch nicht nur deshalb war sie auch nach ihrer Genesung gerne in der Sibyllengrotte geblieben: in einer Umgebung, die manchmal den Eindruck in ihr erweckte, sie befände sich neuerlich an einem der heiligen Orte Avalons. Es war ihr vergönnt gewesen, gewisse andersweltliche Geheimnisse der Höhle kennenzulernen; sie hatte begriffen, auf welchen Erkenntnispfaden Frauen wie Samira seit Jahrtausenden wandelten, um jene Schleier zu durchdringen, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur scheinbar voneinander trennten. Durch diesen faszinierenden Austausch war ihre Freundschaft weiter gewachsen: bis hin zu innigstem gegenseitigen Verständnis und einer Vertrautheit, wie Branwyn sie bisher einzig im Zusammensein mit Dafydd, ihrem toten Geliebten, und – vielleicht – während ihrer letzten Nacht mit Eolo, dem Barden, kennengelernt hatte.
    Um so schwerer war ihr, als Mitte März der Schnee in den Bergen wegschmolz und die Wege wieder passierbar wurden, der Aufbruch gefallen. Samira, die wie sie fühlte, hatte es sich nicht nehmen lassen, Branwyn fast die ganze Strecke nach Süden zu begleiten. Abermals auf ihren Eseln waren sie am malerischen Gestade des Bolsena-Sees entlang und dann durch die Landschaft Latiums geritten; erst eine knappe Tagesreise vor Rom hatten sie sich an diesem Morgen getrennt. Noch einmal hatten die beiden Frauen sich in den Armen gelegen, und Branwyn verstand nur zu gut, warum Samira sich hier von ihr verabschieden wollte: Weil sie sich in dem kleinen Olivenhain, wo sie sich küßten, näher sein konnten als im Trubel der Tiberstadt.
    Lange hatte Branwyn der Freundin, die auf ihrem Esel saß und den anderen mit sich führte, nachgeblickt; große Dankbarkeit für alles, was Samira für sie getan hatte, war in ihrem Herzen gewesen. Im weiteren Verlauf des Tages, während sie die letzte Wegstrecke bis Rom zurückgelegt hatte, waren ihr mehrmals die Tränen in die Augen geschossen. Auch jetzt wieder mußte sie sich zusammennehmen, um nicht aufzuschluchzen. Aber im nächsten Moment besann sie sich auf das Versprechen, das sie der Sibylle gegeben hatte: zu ihr zurückzukehren, wann immer sie ihren Rat, ihre Hilfe oder einfach ihre Nähe brauchte. Der Gedanke, Samira irgendwann wiederzusehen, tröstete sie und gab ihr Kraft. Sie atmete tief durch, dann stand sie auf und schickte sich an, den Weinberg zu verlassen und ins Tibertal hinunterzusteigen.
    ***
    Entlang der mit Kopfsteinen gepflasterten Via Aurelia, der sie schon seit dem Abschied von Samira gefolgt war, erreichte Branwyn die nordwestliche Torbastion des Stadtteils Trans Tiberim: jenes Viertels, das in der Biegung des rechten Stromufers lag. Die dort stehenden Wächter, die Lanzen und Lederharnische trugen, musterten sie neugierig, belästigten sie jedoch nicht weiter. Nachdem sie den wuchtigen Torbau passiert hatte, erkundigte sie sich bei einem der Händler, die auf dem Marktplatz dahinter soeben ihre Verkaufsstände abräumten, um Feierabend zu machen, nach der Kirche Sancta Maria.
    Der Mann wies ihr die Richtung nach Osten, auf das Flußknie zu; während sie weiterging, stellte sie fest, daß in diesem Stadtviertel Roms sehr viele Handwerker lebten. Es gab Steinmetze, Stellmacher, Schmiede, Bronzegießer, Schreiner, Holzschnitzer, Töpfer, Seiler, Küfer, Wachszieher und andere, die ihre Werkstätten in den Erdgeschossen ihrer Häuser betrieben. In anderen Gassen wieder standen mehrstöckige Mietskasernen, wo einfache Arbeiter und Tagelöhner mit ihren zumeist vielköpfigen Familien wohnten. Dann und wann sah Branwyn aber auch kleine landwirtschaftliche Anwesen oder Gärtnereien, die wie Inseln im Häusermeer lagen; ihre Besitzer bauten Feldfrüchte und Gemüse für ihre Mitbürger an, manche mästeten außerdem Schweine oder

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