Die Bischöfin von Rom
versuchen. Das Loch ist nicht tiefer, als dein Arm reicht …«
»Lieber nicht«, wehrte Branwyn ab und richtete sich wieder auf. »Aber ich würde gerne erfahren, warum dieser seltsame Born als heilig gilt?«
»Nun, zum einen besitzt das Pix tumens oder Gräberpech, wie man die schwarze Masse auch nennt, weil die Ägypter sie zur Einbalsamierung ihrer Toten verwenden, Heilkraft«, antwortete das Mädchen. »Es reinigt eiternde Wunden und dient dazu, Geschwüre zu öffnen. Der Hauptgrund aber, weshalb wir diesen Ort verehren, ist ein anderer. Hier nämlich kündigte sich die Geburt unseres Erlösers an.«
»Meinst du damit, es handelt sich um eine uralte Orakelstätte?« fragte Branwyn.
»Davon habe ich noch nie etwas gehört«, erwiderte die Fünfzehnjährige. »Doch du könntest vielleicht recht haben, denn es geht in der Tat um eine Prophezeiung …«
Sie besann sich kurz, dann erzählte sie die Legende, die sich um die einstige Ölquelle rankte: »Es geschah im vierten Regierungsjahr des Kaisers Augustus. Damals war die Gegend des heutigen Stadtteils Trans Tiberim noch unbebaut; es gab hier nur Viehweiden und außerdem, genau an der Stelle, wo heute diese Kirche steht, eine Gruppe von Eichen. Eines Tages beschlossen einige römische Bürger, über den Fluß zu setzen und diese Bäume zu fällen, weil sie Bauholz benötigten. Sie schlugen also die Eichen um; als aber die letzte stürzte, öffnete sich die Erde, und aus ihr drang ein starker Strahl heißes Öl. Die Männer wunderten sich sehr darüber; noch größer wurde ihre Verblüffung, als plötzlich wie aus dem Nichts eine betagte Frau auftauchte, die sie noch nie zuvor gesehen hatten. Diese Alte schalt die römischen Bürger, weil sie Hand an die Bäume gelegt hatten; sodann weissagte sie, daß die Quelle zum Zeichen gewaltiger künftiger Umwälzungen aufgebrochen sei. In dreimal dreizehn Jahren nämlich erfülle sich die Zeit. In Judäa werde dann ein Kind geboren und zu einem großen Menschheitslehrer heranreifen. Dieser Mann müsse später schändlich am Kreuz sterben – doch gerade durch diesen Tod werde Rom und mit ihm die Welt sich verändern.«
Das Mädchen blickte Branwyn ernst an und fügte hinzu: »Genau neununddreißig Jahre danach kam Maria mit ihrem Sohn Jesus nieder, und nachdem sich auch der Rest der Prophezeiung erfüllt hatte und die ersten christlichen Gemeinden in Rom entstanden waren, begannen die Gläubigen zu dem noch immer sprudelnden Born zu pilgern. Während der folgenden Generationen setzten sich die Pilgerbesuche fort, und vor ungefähr einhundertfünfzig Jahren errichtete man die Kirche, in der wir stehen, über dem heiligen Platz. Kaum freilich war sie erbaut, versiegte die nunmehr in Stein gefaßte Quelle allmählich, aber ihre Heilkraft erhielt sich bis in unsere Tage.«
Gespannt hatte Branwyn den Worten der Halbwüchsigen gelauscht, jetzt sagte sie nachdenklich: »Ein Hain, eine Heilquelle und eine damit verknüpfte Zukunftsschau – das alles erinnert mich an bestimmte heilige Orte in meiner Heimat Britannien.«
»Du kommst aus diesem fernen Land im äußersten Nordwesten des Imperiums?« fragte die Fünfzehnjährige überrascht.
»Ich bin eine Keltin vom Volk der dort lebenden Kimmerier«, bestätigte Branwyn.
»Und was führt dich nach Rom?« wollte das Mädchen nun wissen.
»Ich suche eine Frau namens Calpurnia«, erwiderte Branwyn. »Sie soll schon älter sein und in einem der Häuser hier bei der Kirche wohnen.«
»Du meinst doch nicht etwa die Presbyterin?« erkundigte sich die Halbwüchsige erstaunt.
Kaum hatte Branwyn bejaht, äußerte die Fünfzehnjährige aufgeräumt: »Wenn es sich so verhält, bist du bei mir genau richtig. Denn Calpurnia ist meine Großmutter, und du kannst gleich mit mir gehen, um sie kennenzulernen.«
Dankbar stimmte Branwyn zu; unmittelbar darauf verließen sie und das Mädchen die Kirche, überquerten den Platz davor und näherten sich einem der sauber getünchten Häuser auf der gegenüberliegenden Seite. Über dem Türsockel war eine Rotmarmorplatte mit dem Symbol des Ichthys eingelassen; drinnen gelangten die Halbwüchsige und ihre Begleiterin über einen Vorplatz und durch einen gefällig eingerichteten, ansonsten jedoch leeren Wohnraum in den von einem schmalen Laubengang umgebenen Atriumshof des Gebäudes.
Hier hatten sich die Bewohner – ein freundlich wirkendes Ehepaar mittleren Alters sowie eine zierliche, ungefähr fünfundsechzigjährige Frau mit schlichtem
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