Die Bischöfin von Rom
zu verschwinden … Dann kann ich noch in dieser Nacht weit nach Nordwesten wandern …«
Die Bischofswahl
Die Maisonne sandte einen goldenen Lichtstrahl durch den Felskamin in der Höhlendecke. Der schräg einfallende Schein beleuchtete den Menhir, der sich genau in der Mitte der Grotte erhob und vor dem die Sibylle meditierte. Die Einsiedlerin schien in tiefe Trance versunken, doch nun hob sie unvermittelt den Kopf und blickte zum Höhleneingang. Als sie dort die schmale Gestalt im Kapuzenmantel erkannte, stieß Samira einen überraschten Laut aus, sprang auf und eilte Branwyn entgegen; im nächsten Moment lagen die beiden Frauen sich in den Armen.
Branwyn, die eine anstrengende zweiwöchige Wanderung hinter sich hatte, war abgemagert und wirkte erschöpft. Jetzt, da die Freundin sich wieder von ihr löste und sie forschend betrachtete, erkannte sie zusätzlich die Spuren des tiefen Leids im Antlitz der Jüngeren, die ihr im Winter vor vier Jahren so nahegekommen war. Instinktiv begriff die Mittdreißigerin; schweigend führte sie die Vertraute, die zu ihr heimgefunden hatte, zum Menhir und zog sie auf die niedrige Steinbank, wo sie zuvor meditiert hatte. Erst dann sagte sie leise: »Du weißt, daß dieser Platz vom Frieden der Göttin erfüllt ist, du hier geborgen bist und mir alles anvertrauen kannst …«
Tränen schossen Branwyn in die Augen; sie barg das Gesicht an Samiras Brust und hatte dabei das Empfinden, als würde die lange Zeit, die sie getrennt gewesen waren, zu einem Nichts zusammenschrumpfen. Es war ihr, als hätte sie das behutsame Streicheln der Älteren erst gestern gespürt; langsam entspannte sie sich, und nach einer Weile vermochte sie über die unsägliche Erniedrigung zu sprechen, die sie in jener schrecklichen Nacht zur Flucht aus Rom getrieben hatte.
Samira hörte ihr zu, gelegentlich stellte sie eine mitfühlende Zwischenfrage; nachdem Branwyn sich ihren Schmerz von der Seele geredet hatte, brach sie abermals in Schluchzen aus. Aber nun war das Weinen wie eine Befreiung. Alles was sich in ihr angestaut hatte, schien mit den Tränen weggeschwemmt zu werden – schließlich fühlte Branwyn nur noch betäubende und zugleich erlösende Müdigkeit.
»Komm!« vernahm sie Samiras Flüstern; gleich darauf geleitete die Freundin sie zu ihrer Liegestatt im hinteren Teil der Höhle. Branwyn sank auf das weiche, leicht nach Kräutern duftende Ruhelager; Samira breitete eine Decke über sie, hielt ihre Hand und blieb bei ihr sitzen, bis sie eingeschlafen war.
Als Branwyn nach einigen Stunden wieder erwachte, erfüllte geheimnisvolles, rötlich durchflackertes Halbdunkel die Sibyllengrotte. An den Höhlenwänden und auf der Oberfläche des Menhirs spielte der Widerschein des Feuers; aus dem Kupferkessel, der am hölzernen Schwenkarm über der Herdstelle hing, drang der appetitanregende Geruch von schmurgelndem Gemüse und Hammelfleisch.
Branwyn spürte, wie ihr das Wasser im Mund zusammenlief. Sie schlüpfte unter der Decke hervor und machte Anstalten, aufzustehen. Doch im selben Moment war Samira, die neben der Feuerstelle gesessen hatte, bei ihr, strich ihr liebevoll über das Haar und forderte sie auf: »Bleib im Bett und laß dich verwöhnen.«
Dankbar lehnte Branwyn sich zurück; sie beobachtete, wie die Sibylle den Kochkessel vom Haken nahm und zwei irdene Näpfe mit dem Eintopf füllte. Dann trug Samira ein Tischchen und einen Schemel zum Ruhelager, holte die Schüsseln, setzte sich, reichte ihrer Freundin einen mit hübschen Mustern verzierten Holzlöffel und fragte lächelnd: »Erkennst du ihn wieder?«
»Du hast den Löffel damals, als ich wochenlang krank lag, für mich geschnitzt«, antwortete Branwyn mit weicher Stimme.
Danach, während die beiden Frauen aßen, erzählte Samira, wie es ihr ergangen war, seit sie sich im Frühling vor vier Jahren getrennt hatten. In der Abgeschiedenheit der Bergwelt war ihr Dasein zumeist in ruhigem Gleichmaß verlaufen. Wenn allerdings Ratsuchende zu ihr gekommen waren, hatte sie sich mit Hilfe der Erdkräfte, die über den Menhir auf sie einwirkten, in Trance versetzt, um sodann durch ihre hellseherische Fähigkeit helfen zu können. Darüber hinaus war sie, wann immer man sie brauchte, für die Erkrankten der umliegenden, oft tageweit entfernten Dörfer und Einödgehöfte dagewesen und hatte diese Leidenden mit Kräutermedikamenten, aber auch mit Hilfe der ihr von der Göttin übertragenen geistigen Heilkraft behandelt und ihnen so neuen
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