Die Bischöfin von Rom
eine feierliche Stimmung; als die letzten Töne verklungen waren, erhob sich die Presbyterin von Sancta Praxedis und wandte sich mit folgenden Worten an Branwyn:
»Wir alle kennen deine uneigennützige Wesensart, die nichts für sich selbst, aber unendlich viel für die Wohlfahrt der anderen will. Um so mehr achten wir dich und lieben dich gerade wegen deines bescheidenen Charakters – doch in dieser Stunde darfst du es uns nicht verwehren, dir das zu erweisen, was du dir wie niemand sonst verdient hast: Ehre im Angesicht Gottes und der Menschen! In dieser Absicht haben wir uns hier zusammengefunden, wo schon vor drei Jahrhunderten Priesterinnen wirkten, die dir sehr ähnlich waren: Pudentia und Praxedis, die Freundinnen des Apostels Petrus. Erfüllt von tiefer Nächstenliebe führten sie fort, was der Jünger Jesu begründet hatte, und im gleichen Geiste hast auch du stets gehandelt: zuerst als Presbyterin und nunmehr als unsere Episcopa. Obwohl seit deiner Wahl erst wenige Monate vergangen sind, hast du in dieser kurzen Zeit außerordentlich viel Gutes getan und damit jenen Christen, die auf humanes Miteinander statt auf inhumane Machtgier setzen, neue Hoffnung geschenkt. Und zum Dank dafür – jedoch auch als Wegzeichen für künftige Generationen – sind wir, die Vertreter aller nichtkatholischen Kirchensprengel Roms, übereingekommen, dich auf besondere Art zu ehren …«
Silvia gab einem vollbärtigen Mann namens Terentius, der die ganze Zeit über still neben dem Petrus-Mosaik an der Rückwand des Altarraumes gestanden hatte, ein Zeichen. Der Bärtige nickte und zog an einer Kordel; eine Tuchbahn, die ein Stück des Mauerwerks verborgen hatte, glitt zu Boden und gab den Blick auf ein Bildnis seitlich der Petrus-Darstellung frei.
Kaum fiel das Licht auf die Mosaiksteine des Portraits, wurden im Kirchenschiff begeisterte Ausrufe laut. Denn dem Künstler, der das Mosaik geschaffen und soeben enthüllt hatte, war zweifellos ein Meisterwerk gelungen. Er hatte sich für ein Brustbild der jungen Bischöfin entschieden, so daß ihr Gesicht um so besser zur Geltung kommen konnte: ihr reizvoll geformtes ovales Antlitz mit den edlen Zügen und den großen Augen, aus denen warmherzige Intelligenz strahlte. Eine dreifache Borte in den weißen, roten und dunkelblauen Farben der Göttin, wie Branwyn sie in leichter Abwandlung der älteren Weiß-Rot-Schwarz-Kombination häufig trug, schmückte den Ausschnitt ihres Kleides. Der helle Schleier, der ihre Stirn bedeckte, weich auf die Schultern fiel und Symbol ihres Priesteramtes war, kontrastierte harmonisch damit – und ebenso mit dem abermals dunkelblauen Portraithintergrund. Dieser war in Form eines Nimbus – einer Art Aura – ausgeführt und besaß statt der bei Heiligendarstellungen üblichen runden Form eine rechteckige Gestalt, was in der kirchlichen Symbolik bedeutete, daß das Kunstwerk eine noch lebende Person zeigte.
Ein Schriftzug schließlich erklärte, wem das Bildnis gewidmet war, und nun, während sie sich von ihrem Stuhl erhob und die Hand auf Branwyns Schulter legte, sprach Silvia die in das Mosaik integrierten Worte aus: »Episcopa Theodora – so werden es von heute an alle lesen, welche dieses Gotteshaus betreten und das von unserem Freund Terentius so trefflich gestaltete Kunstwerk betrachten. Wenn die Menschen dann nachfragen, werden sie von den guten Werken der Bischöfin Theodora hören und auch erfahren, warum das Mosaik gerade in Sancta Praxedis angebracht wurde. Hier fand ja heuer im Frühjahr die Zusammenkunft statt, bei der beschlossen wurde, das alte Recht der freien Bischofswahl zu erneuern, damit der Geist, welcher die erste Kirche Roms begründete, wiedererweckt werde: der gute Geist von Petrus, Pudentia und Praxedis, die innerhalb dieser Mauern einst Juden, Christen und Heiden friedlich zusammenführten. Wir alle wünschen uns, daß das römische Christentum insgesamt sich auf diese Werte sowie das damit untrennbar verbundene Ideal der Nächstenliebe rückbesinnen möge, und da wir darin keine bessere Führerin als dich, Branwyn, haben könnten, war es das Anliegen sämtlicher Gemeinden unserer Diözese, dein Portrait hier anbringen zu lassen.«
Nachdem die Presbyterin geendet hatte, ertönte aus dem Kirchenschiff langanhaltender Beifall, der sich erst legte, als Branwyn langsam aufstand. Doch wenn die Gläubigen erwartet hatten, auch sie würde jetzt eine feierliche Rede halten, so täuschten sie sich. Vielmehr umarmte die
Weitere Kostenlose Bücher