Die Bischöfin von Rom
Wohlstand, wie sie ihn nie zuvor genossen hatten.
Während der Dorfälteste über die Tudurs sprach, mußte Branwyn einmal mehr an Eolo Goch denken. Am ersten Abend, den sie zusammen in der Höhle am Eryri Gwyn verbrachten, hatte der Barde ihr von seiner Ausbildung in Aberffraw erzählt und sich ebenfalls sehr lobend über das Fürstengeschlecht der Tudurs geäußert, in dessen Auftrag er damals nach Tintagel unterwegs gewesen war. Nun, als der grauhaarige Mann zu ihrer Rechten seinen Bericht beendete, führte Branwyn versonnen ihren Becher mit Metheglyn an den Mund. Gleich darauf, weil der Kapitän einen launigen Trinkspruch auf die hübscheste Frau ausbrachte, die er je an Bord gehabt hatte, wurde sie abgelenkt, überwand die melancholische Stimmung, von der sie unvermittelt befallen worden war, und beteiligte sich wieder an der allgemeinen Unterhaltung.
Das Fest dauerte bis spät in die Nacht; todmüde folgte Branwyn schließlich ihren Gastgebern, einem freundlichen jüngeren Ehepaar, zu deren Rundhaus. Sie schlief, bis die Sonne hoch am Himmel stand; den nächsten Tag verbrachte sie damit, die Vorbereitungen für den letzten Abschnitt ihrer Reise zu treffen.
Am folgenden Morgen trug sie ihr Gepäck zu dem Curragh, den der Dorfälteste ihr auf ihre Bitte hin zur Verfügung gestellt hatte; sie lud auch ein paar Lebensmittel sowie eine Zeltplane ein, die sie in der Ansiedlung gekauft hatte. Dann, nachdem sie sich von den Seeleuten und den Dorfbewohnern verabschiedet hatte, steuerte sie das lederbespannte Boot aufs Meer hinaus.
***
Die Barke hatte die Mündung des Glaslyn von Süden her angelaufen, nun ruderte Branwyn in ihrem Curragh nach Westen: immer in einiger Entfernung an der Küste der Lleyn-Halbinsel entlang, die sich Dutzende Meilen weit in Richtung Irland erstreckte. Die See war ruhig, und ein leichter Rückenwind unterstützte das Vorwärtskommen; Möwen kreisten über dem Curragh, ab und zu segelten Kormorane heran. Branwyn genoß die Fahrt und den Blick auf die abwechslungsreiche Küstenlandschaft mit ihren mächtigen grauschwarzen Felsbastionen, zwischen denen sich gelegentlich helle Sandstrände öffneten. Als sie kurz vor der Abenddämmerung in einer dieser Buchten an Land ging und ihr Lager aufschlug, schätzte Branwyn, daß sie bereits gut die Hälfte ihres Weges geschafft hatte.
Während der ersten Nachstunden schlummerte sie ungestört im Schutz ihres kleinen Zelts, dann jedoch weckte sie das Prasseln eines heranfegenden und wieder ersterbenden Regenschauers. Die Niederschläge setzten sich in unregelmäßigen Abständen bis zum Morgen fort; nachdem sie den Curragh erneut zu Wasser gebracht hatte, fürchtete Branwyn, der Tag würde ausgesprochen ungemütlich werden. Aber nach ungefähr einer Stunde klarte der Himmel leicht auf, jetzt hing nur noch dünner Hochnebel über dem Meer. Der Wind allerdings hatte gedreht und traf das zerbrechliche Boot nun seitlich; den ganzen Vormittag über mußte Branwyn darauf achten, nicht zu nahe an den Strand mit seinen stellenweise knapp unter der Wasseroberfläche verborgenen Riffs und oftmals tückischen Strudeln herangetrieben zu werden.
In der zweiten Tageshälfte endlich erstarb die Brise, die Nebelschwaden freilich verdichteten sich daraufhin wieder. Manchmal verschwand die Uferlinie völlig im Dunst, und hätte Branwyn sich nicht schon so nahe an ihrem Ziel befunden, wäre sie Gefahr gelaufen, die Orientierung zu verlieren. Doch das Vorgebirge, das schemenhaft zu ihrer Rechten lag, war ihr – selbst nach all den Jahren noch – zutiefst vertraut. Sie hatte das Gefühl, dort drüben jeden Felssporn und jede Kluft zu erkennen; nach einer weiteren Stunde, als der äußerste Ausläufer des Kaps genau querab lag, spürte sie, wie der Curragh in einer heftigen Kreuzsee zu schlingern begann.
Sie benötigte ihre ganze Kraft und Geschicklichkeit, um die schwierige Stelle zu überwinden und das Boot in ruhigeres Fahrwasser weiter draußen zu bringen. Hier änderte sie den Kurs, ruderte jetzt scheinbar aufs offene Meer hinaus – dann aber tauchte eine mächtige, das Firmament verschattende Silhouette vor ihr auf: die Steilküste der Ynys Vytrin.
Branwyn landete unweit jener Stelle, von der aus ihr ein volles Jahrzehnt zuvor – in der Nacht nach dem Piratenüberfall – die Flucht von der Gläsernen Insel gelungen war. Nun, da sie den Curragh auf den schmalen Geröllstreifen oberhalb der Flutlinie zog, schien die Zeit zu einem Nichts zu schrumpfen.
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