Die Bischöfin von Rom
der Dunkelheit noch schaffte, würde ihr keine Zeit mehr bleiben, die nötigen Vorbereitungen für die Nacht zu treffen. Also mußte sie notgedrungen den nächsten Morgen abwarten, um Gewißheit zu bekommen.
Am Saum des Bergwaldes, dessen Ausläufer sich da und dort noch in das Hochtal vorstreckten, errichtete sie ihr Lager. Bald funkelten die Sterne zwischen den Ästen der Föhren, unter denen die junge Frau, in ihr Plaid gehüllt, am Feuer lag. Im Norden stand die Silhouette des Eryri Gwyn als grandioser Schattenriß vor dem Firmament. Ehe Branwyn einschlief, bat sie die Götter, sie von ihrer Einsamkeit zu erlösen und ihr endlich wieder menschliche Gesellschaft zu schenken.
Mit dem ersten Tageslicht brach sie zu der weiter westlich gelegenen Felswand auf, vor der sie das künstliche Steinmal ausgemacht hatte. Zunächst am Seeufer entlang, dann über eine ausgedehnte Heidefläche folgte sie dem langgestreckten Tal. Je weiter sie kam, desto deutlicher erkannte sie die Umrisse des Menhirs, aber sie benötigte bedeutend mehr Zeit, als sie gedacht hatte, ehe sie vor ihm stand. Doppelt mannshoch ragte der grauschwarze Schieferblock mit den regelmäßig behauenen Kanten und dem kunstvoll ausgeführten Flechtornament an der Vorderseite empor; neben seinem Sockel war eine kleine Pyramide aus faustgroßen Steinen aufgehäuft.
So eindrucksvoll der Menhir wirkte, so tief war die Enttäuschung, welche die junge Frau empfand. Denn die Steinpyramide bewies ihr, daß sie lediglich eine weithin sichtbare Wegmarkierung gefunden hatte. Wanderer hatten die Brocken im Verlauf der Jahrhunderte niedergelegt: als Dankzeichen an die Götter, welche sie auf dem gefährlichen Abstieg durch den hier von Nordwesten in das Hochtal einmündenden Paß behütet hatten. Und weil die schmale, steil ansteigende Kluft vom See aus nicht zu erkennen und selbst aus der Nähe leicht zu verfehlen war, hatte man wohl schon vor Urzeiten an ihrem Zugang für diejenigen, die sich von Osten her näherten, den Menhir errichtet.
Branwyn kauerte sich nieder und untersuchte die Pyramide. Ein paar Steine ganz oben schienen sich noch nicht allzu lange dort zu befinden, und das immerhin vermittelte ihre neue Hoffnung. Zwar durfte sie nicht mehr damit rechnen, irgendwo in der Nähe auf ein Dorf zu stoßen, aber der Gebirgsweg wurde offenbar nach wie vor begangen. Sie schätzte, daß zwei oder drei der Brocken höchstens einen Monat hier lagen; infolgedessen würden wahrscheinlich auch in Zukunft – und vielleicht schon sehr bald – wieder Menschen vorbeikommen.
Nachdenklich stand sie auf, lehnte sich gegen den Menhir und überlegte, was sie tun sollte: hierbleiben und warten oder ihre Suche auf eigene Faust fortsetzen? Doch ehe sie zu einem Ergebnis gelangt war, wurde ihr die Entscheidung abgenommen – und zwar dank des Purpurreihers, durch den sie am Abend zuvor auf den Hohen Stein aufmerksam geworden war. Unvermittelt segelte der große Vogel heran, umkreiste den Menhir, stieß ein aufforderndes Krächzen aus und flog in den Paß hinein. Während er in der Klamm verschwand, hatte Branwyn plötzlich das untrügliche Gefühl, daß sie dort eine wichtige Entdeckung machen würde; sie folgte ihrer inneren Stimme und lief zur Kluft hinüber. Kaum war sie ein paar Dutzend Schritte eingedrungen, bestätigte sich ihre Intuition – denn ihr Blick fiel auf den Eingang einer Höhle.
Der bogenförmige Grottenmund öffnete sich über einem Felsband und war halb von einer Zwergbirkengruppe verdeckt; ein Pfad, der offensichtlich von Menschenhand angelegt war, führte hinauf. So schnell wie möglich erklomm die junge Frau ihn, schob sich an den Bäumchen vorbei und betrat die Höhle. Um hineinzukommen, mußte sie sich etwas bücken; drinnen wölbte die Kavernendecke sich ein gutes Stück nach oben. Nachdem Branwyns Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, stellte sie fest, daß der geräumige Höhlenraum die Form einer umgedrehten Schüssel besaß. Die Luft war trocken, der Boden bestand aus feinem Sand; insgesamt machte die Grotte einen anheimelnden Eindruck. Aber das war noch nicht alles, denn gleich neben dem Zugang gab es eine Feuerstelle: einen Ring aus schweren Steinen, in dem verkohlte Holzreste lagen.
Ein Rastplatz für alle, die ein Nachtlager am Paßweg benötigen, dachte die junge Frau. Gleich darauf erinnerte sie sich wieder an den Purpurreiher, der ihr den Weg gewiesen hatte, und jetzt konnte es keinen Zweifel mehr geben: Die Göttin hatte den
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