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Die Bischöfin von Rom

Die Bischöfin von Rom

Titel: Die Bischöfin von Rom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Böckel
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einem Habicht geschlagenen Kaninchens; sie hatte das Fell abgeschabt, zugeschnitten und es mit Hilfe einer Knochennadel und Pflanzenfasern vernäht. Aus dem Paddel des Curraghs und einem scharfen, zugespitzten Abschlag von ihrer Flintsteinknolle hatte sie eine kurze Lanze gebastelt, die ihr notfalls als Waffe, aber auch als Wanderstab dienen konnte. Von dem leichten Boot selbst lag jetzt nur noch das hölzerne Gerippe da; die junge Frau hatte den salzverkrusteten ledernen Überzug abgelöst, ihn gereinigt, gewalkt und damit geschmeidig gemacht, so daß er sich zu einem handlichen Bündel zusammenschnüren und an einem Lagerplatz wahlweise als Liegematte oder Zelt verwenden ließ.
    Der Morgen, an dem Branwyn aufbrach, war kühl; der Meerwind trieb graue Wolkenbänke auf das Bergmassiv des Eryri Gwyn zu. Doch in der Mitte des Vormittags brach die Sonne durch, und die hohen Felsgipfel weit im Landesinneren waren nun in weiches, warm leuchtendes Licht getaucht. Der Göttersitz des Landes Gwynedd zeigte sich in seiner ganzen entrückten Schönheit; allem Niedrigen entzogen, schien er zwischen Himmel und Erde zu schweben – und die junge Frau lautlos zu rufen.
    Ebenso wie am Tag nach ihrer Ankunft wanderte Branwyn auch diesmal den Fluß hinauf, der ihrer Schätzung nach irgendwo nahe des Eryri Gwyn entsprang. Bis zum Mittag erreichte sie die Stelle, wo das Wasser in wilden Kaskaden über die Klippen schäumte, rastete abermals dort und drang dann weiter nach Norden vor. Entlang des Flußtales erklomm sie eine Hochebene, auf welcher der Riesenfarn teilweise so hoch stand, daß die Wedel ihr über den Kopf reichten; anderswo wieder mäandrierte das Gewässer durch üppigen Laubwald mit dichtem Unterholz. Als die Schatten zwischen den Bäumen am Spätnachmittag tiefer wurden, stieß die junge Frau auf eine vom Blitz gefällte Eiche, unter deren gewaltigem Stamm sie während der Nacht Schutz finden konnte. Sie errichtete eine kleine Feuerstelle und bereitete das Lager vor; ihr Abendessen bestand aus einem guten Dutzend Flußkrebsen, die sie unterwegs erbeutet hatte und jetzt in der Glut garte.
    Auch in der Folge mußte Branwyn keinen Hunger leiden; sie fing Krebse und Fische, pflückte Beeren oder sammelte Pilze. Am Ende des zweiten Tages stieß sie auf den Zugang zu einem Paß mit schroffen Steinwänden und übernachtete unmittelbar unterhalb. Kaum stand die Sonne wieder am Himmel, machte sie sich an den Aufstieg und kletterte entlang des nun felsigen Flußufers durch die Klamm. Mühsam passierte sie eine Reihe von Wasserfällen, balancierte über schlüpfrige, mit Tang bewachsene Steinbuckel und lief teilweise auch direkt durchs flache Wasser. In der Abenddämmerung war sie völlig erschöpft, aber sie hatte den Paß hinter sich gebracht, und die Gipfelgruppe des Eryri Gwyn war wiederum ein gutes Stück nähergerückt.
    Dennoch dauerte es fast zwei weitere Tage, ehe die junge Frau das Quellgebiet des Flusses und damit den Fuß des gewaltigen Bergmassivs erreicht hatte. Ein Quertal, an dessen Rand ein schmaler See glitzerte, zog sich an den von Heidekraut, Ginster und Moosteppichen bedeckten Flanken des Göttersitzes entlang. Dahinter stiegen die Hänge steil an, gingen in majestätische Felswände über, und über allem ragten die Grate und Sättel der Gipfelkette empor. Die tiefstehende Sonne tauchte das Gestein in ihren goldenen Glanz; still, von tiefer Ehrfurcht ergriffen, nahm Branwyn den einzigartigen Anblick in sich auf, zuletzt flüsterte sie den Namen der Göttin.
    Im selben Moment, da sie ihn aussprach, gewahrte sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Sie wandte den Kopf und sah am Ende des Bergsees einen Purpurreiher niederstreichen. Mit dem nächsten Lidschlag erstarrte sie, doch nicht der Vogel mit dem rötlichen Gefieder, dessen Schnabel jetzt ins Wasser stieß und einen Fisch aufspießte, war schuld an Branwyns Überraschung – sondern das winzige säulenartige Gebilde, das sich weit jenseits der Stelle, wo der Reiher aufgetaucht war, schwarz gegen eine helle Felswand abhob. Und dann, nachdem die junge Frau eine Weile angestrengt gegen die sinkende Sonne gespäht hatte, begriff sie, daß dort drüben ein Menhir stehen mußte: ein Steinmal, das von Menschen gesetzt worden war.
    Alles drängte sie dazu, sofort loszulaufen; vielleicht lag in der Nähe des Hohen Steines eine Ansiedlung. Aber Branwyn durfte der Regung nicht nachgeben. Die Entfernung bis zu dem Menhir war zu groß; selbst wenn sie es bis Einbruch

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