Die Bischöfin von Rom
und der Schmerz über den Verlust Dafydds und all der anderen wurde abermals fast unerträglich. Branwyn vermeinte in solchen Nächten, das Böse, das über das Eiland hereingebrochen war, auch im Fauchen des Sturmes und in der bedrohlichen Finsternis, die nur wenige Schritte jenseits der Feuerstelle lauerte, zu erkennen. Verzweifelt rang sie dann um eine Antwort auf die uralte Menschheitsfrage: Warum die Götter es zuließen, daß dieses Abgründige in der Welt war?!
Aber nie fand sie eine Erklärung. Sie konnte sich höchstens vergegenwärtigen, was Jacwb, der christliche Priester, gelehrt hatte: Obwohl Jesus stets nur Gutes getan hatte, war er von den Römern ans Kreuz geschlagen worden, hatte furchtbare Qualen erlitten und zuletzt seine Seele ausgehaucht – trotzdem war er am dritten Tag wieder von den Toten auferstanden und hatte auf diese Weise jene überwunden, die ihn hingeschlachtet hatten. Und einmal, in einer dieser Nächte, die nicht enden wollten, schien Arawns Stimme zu flüstern: »Das Leben ist unzerstörbar … Immerwährend gebärt die Große Göttin es neu … Nichts geht verloren im ewigen Kreislauf des Daseins …« Und nur darin vermochte sie einen gewissen Trost zu finden; Hoffnung, die aus dem Wissen entstand, daß hinter der Diesseitswelt die Anderswelt lag: Annwn, von wo die Opfer des Bösen wiederkehren würden, Myriaden Geschändete und Erniedrigte, um dereinst das Abgründige für immer zu besiegen.
Wenn Branwyn solch innere Kämpfe durchgefochten hatte, fühlte sie sich oft tagelang erschöpft, doch nie gab sie sich selbst auf. Ihr Mut und damit ihre Lebenskraft blieben ungebrochen, und an den hellen Tagen, an denen das Bergmassiv im Sonnenschein leuchtete, vermittelte ihr der Anblick des Eryri Gwyn seelische Stärke. Sobald die Schneefelder sich wie damals, zu Beginn des Winters, in den Weißen Adler verwandelten, spürte die junge Frau, daß sie trotz allem nicht verlassen war. Stets entstand aus der Finsternis wieder das Licht; auch Frost und Eis würden irgendwann dem Frühling weichen: der milden Jahreszeit der Göttin Beltane, nach deren Wärme sich Branwyn nun mit jedem Morgen inständiger sehnte.
Endlich wurden die Nächte spürbar kürzer und die Luft weicher. Der Schnee schmolz, einzig auf den Zinnen des Göttersitzes behaupteten sich die gleißenden Firnfelder noch. Aber als wenig später die heimkehrenden Zugvögel in den Bergwald einfielen und hoch oben am Himmel Keile von Graugänsen nach Norden zogen, begannen auch die Eisfelder in den Gipfelklüften des Eryri Gwyn dahinzuschwinden. Das Tauwasser, das in hundert Rinnsalen von den Bergflanken rieselte, brachte den See am Fuß des Massivs zum Überlaufen. Rauschend trat das Gewässer am östlichen Ende des Tals über seine Ufer, und von da an zog es auch die junge Frau mit unwiderstehlicher Macht hinaus ins Freie. Alles in ihr hungerte am Ende des langen Winters nach Licht, Luft und Bewegung; sie konnte nicht genug davon bekommen, und die bereits wieder kräftigen Sonnenstrahlen auf ihrer Haut schenkten ihr das Gefühl, neu geboren zu sein.
***
An diesem Nachmittag hatte Branwyn sich vorgenommen, möglichst weit in den Paß vorzudringen. Im vergangenen Herbst war ihr keine Zeit mehr geblieben, ihn zu erkunden; das Sammeln der Vorräte und all die anderen überlebensnotwendigen Arbeiten waren wichtiger gewesen. Doch jetzt genoß sie es, die Klamm aufwärts zu steigen; es war wie ein Ausbruch aus der Enge, der sie an die vier Monate nicht hatte entfliehen können.
Die schmale Schlucht zog sich zunächst ein gutes Stück steil ins Gebirge hinein; dann, nach einer Kehre, wurde sie flacher und breiter. An einer Stelle trug der Talboden hier kräftigen Pflanzenbewuchs, und zu ihrem Erstaunen bemerkte Branwyn dort eine Gruppe von Weißdornsträuchern, wie es sie draußen auf der Hochebene nicht gab. Sofort lief sie hin, um die stachelbesetzten Zweige näher zu untersuchen. Sie wollte wissen, ob es sich um jene Art handelte, aus deren Wurzeln sich zu dieser Jahreszeit ein kräftigender Sud gewinnen ließ. Weil dies der Fall war, entschloß sie sich, einen kleinen Strauch auszugraben; sie würde der Natur dadurch keinen ernsthaften Verlust zufügen, denn ringsum wuchsen noch ungefähr ein Dutzend weitere. Sie zog ihr Messer und lockerte vorsichtig die Erde; nach einer Weile hatte sie den Strunk tief genug freigelegt, um ihn ohne Beschädigung aus dem Boden ziehen zu können. Sie schnitt das Wurzelwerk ab, reinigte es
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