Die blaue Liste
den Hals des Instruments los, sodass der Laut, der nun auf allen Zuhörern lastet, wie frei
schwebend wirkt. Kurz bevor es unerträglich wird, prustet er entschuldigend ein jungenhaftes Lachen ins Publikum und zählt
ins Mikrophon: One, two, three – und die Band setzt ein.
Es ist wunderbar. Dengler spürt förmlich, wie plötzlich Tausende Herzen im Bluestakt der Band mitschwingen. Der Musiker tritt
ein paar Schritte zurück und scheint, wie alle im Saal, der Band zu lauschen. Dann schnellt er mit einem Satz zum Mikrophon
und singt.
Dengler versteht nur einen Teil des Textes. Er handelt von einem Mann, der fünf lange Jahre in einem Stahlwerk arbeitet und
jeden Freitag brav seiner Frau den Lohn abgibt. Undnun hat sie den Nerv, ihn zu verlassen. Es ist aber nicht der Text, der Dengler sofort in Bann zieht. Es ist die Ausdruckskraft
der Stimme, die diese kleine Geschichte mit einer Leidenschaft erzählt, wie sie Dengler noch nie zuvor gehört hat. Er hätte
schwören können, diese Geschichte sei dem Musiker gerade eben, erst vor wenigen Minuten widerfahren.
Es reißt sie von den Stühlen. Alle. Wie eine einzige Bewegung eines zusammengehörigen Körpers. Auch Dengler zieht es nach
vorne. Er steht da und applaudiert. Die Frau im schwarzen Kleid kniet neben ihm auf der Sitzfläche des Plüschsessels, der
bedenklich schwankt, und ruft den Musikern etwas für Georg Unverständliches zu, ihre Worte gehen im Höllenlärm des Beifalls
unter.
Der Gitarrist ist nun einige Schritte zurückgetreten und lächelt verlegen. Dann verbeugt er sich, bis der Beifall verebbt;
die Menschen setzen sich wieder. »Ladies and Gentlemen – Junior Wells!« Er streckt die Hand einem kleineren Mann entgegen,
ebenfalls ein Schwarzer, der die Bühne von rechts betritt. Dengler fällt das schillernde Weiß seines Anzugs auf. Junior Wells
trägt einen weißen Seidenanzug und einen ebenfalls weißen Borsalino. Dengler ist nahe genug an der Bühne, um zu erkennen,
dass er an fast jedem Finger einen Ring trägt. Es blitzt weiß und blau, wenn das Licht der Scheinwerfer auf seine Hände fällt.
Was für ein kleiner Mann! Dengler schätzt ihn auf einen Meter fünfundsechzig.
Ein Roadie schraubt ihm das Mikrophon herunter. Dann wendet sich Junior Wells zur Band und zählt:
»One, two, one, two, three.«
Knapper, pulsierender Sound. Unkompliziert. Bass, Schlagzeug, Piano und zwei Gitarren, deutlich, kraftvoll, nicht zu laut
und sehr warm. Nun zieht Junior Wells eine silbern glänzende Mundharmonika aus dem Gürtel, und als er sie an den Mund setzt,
erhebt sich über dem fließenden, sichwiederholenden Geflecht ein einzelner Ton, laut und hell, dreht sich, noch vorsichtig, um mit zwei, drei Sprüngen höher zu
klettern und eine Pirouette zu drehen. Dann – ein harter Schlag der Snaredrum, und die Band stoppt. Junior Wells tritt zum Mikrophon, die Augen geschlossen, er singt:
You got to help me, Baby,
I can't do it all by myself.
You know if you don't help me this mornin
I'll have to find myself somebody else.
Nun spielen sie erneut den pulsierenden Rhythmus, und wieder klettert und stürzt und steigt die Mundharmonika die Tonleiter
hinauf, klar und einsam, bis sie ganz oben verharrt, ein einzelner unerschütterlicher Ton, der nun von der Gitarre eingeholt
wird und mit ihr übereinstimmt. Dengler kann beide Instrumente nicht mehr unterscheiden. Dann wird das Solo vom Gitarristen
übernommen, es wird schnell, und trotzdem hört Georg keinen überflüssigen Ton.
Es ist das alte Klagelied eines Machos, Eingeständnis der eigenen Ohnmacht und zugleich vergebliche Rebellion dagegen. In
der königlichen Musikhalle hört Georg Dengler eine Musik, wie er sie noch nie vernahm. Er wird aufgerieben von dem treibenden
Rhythmus und der Einsamkeit und dem Verlangen, das in dem Blues lebt.
Junior Wells und der Gitarrist singen abwechselnd eine Strophe.
Sie verständigen sich nur durch einen gegenseitigen Blick oder einen Zuruf, was sie als Nächstes tun werden. Junior Wells
tritt ans Mikro:
Can I blow some
Und er bläst seine steigenden und fallenden Kaskaden in den Saal. Knapp. Gekonnt.
Der Gitarrist springt mitten in den gleißenden Lichtkegel:
Look and hear
Die Finger seiner linken Hand rasen den Gitarrenhals hinunter, pausieren auf einem lang gezogenen, sterbenden Ton, dehnen
ihn schmerzlich, um dann, von unbekannter Choreographie geleitet, wieder hinaufzuhasten.
Sie scheinen diesen zweiten Song
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