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Die blaue Liste

Die blaue Liste

Titel: Die blaue Liste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schorlau
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nicht mehr beenden zu wollen, und niemand im Saal will, dass sie aufhören. Sie treiben sich
     gegenseitig, stacheln sich zu immer neuen Improvisationen an; der Pianist zitiert Gershwin und einige Chet-Baker-Themen, bevor
     er sich wieder in den Kreis der anderen Instrumente zurückfallen lässt.
    Doch dann stehen sie nass und lachend am Bühnenrand.
    »Ladies and Gentlemen – Junior Wells«, sagt der Gitarrist und zeigt auf den kleinen Mann mit der Mundharmonika.
    »Buddy Guy«, sagt Junior Wells und deutet auf den Gitarristen.
    Dieses Konzert in der Königlichen Albert Hall in London ist Georg Denglers erstes Blueskonzert. Ihm ist, als habe jemand ihm
     ein neues Fenster aufgestoßen. Was er bei der Musik der Stones vermisste, unbewusst sicherlich, die fehlende Abrundung oder
     die nötige Tiefe – bei diesem Konzert hört er es zum ersten Mal. Er ist nun ein Bekehrter.

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    4
    Heinz erzählte ihnen nichts über die geplante Aktion, und Kerstin ging seine Heimlichtuerei auf die Nerven. Überhaupt fand
     sie, der Genosse Heinz behandelte sie schlecht, ja, fast kam es ihr vor, er interessierte sich ausschließlich für Uwe.
    »Du wirst es schon rechtzeitig erfahren«, sagte Heinz, »aber erst müssen wir dafür sorgen, dass unser Rekrut schießen lernt.«
    Sie hasste es, wenn er Uwe »unseren Rekruten« nannte, und noch mehr hasste sie es, dass Uwe diese Bezeichnung gefiel. Jedenfalls
     protestierte er nicht dagegen.
    Ihr gefiel nicht, dass Uwe sich diesem Genossen gegenüber so unterwürfig verhielt, und dieser Widerwille rumorte in ihrem
     Magen, sobald Heinz die Wohnung betrat.
    Sie sah ihn zum ersten Mal, als er Uwe früh morgens zum Schießtraining abholte. Er trug einen olivfarbenen Seesack in die
     Wohnung, den er mit einem Ruck von der Schulter warf, sodass er mit einem dunklen Geräusch auf die Holzdielen des Flurs klatschte.
    »Anziehen«, sagte er zu Uwe, der noch geschlafen hatte und nun in seinem alten blauen Bademantel, sich die Augen reibend,
     aus dem Schlafzimmer trat.
    Uwe bückte sich und zog einen Drillich aus dem Sack, Hose, Jacke, Hemd, ein paar Stiefel und ein Schiffchen. »Tarnung«, sagte
     Heinz.
    Er selbst trug Springerstiefel, schwarz glänzend, die Enden der beiden Schnürsenkel hingen gleich lang auf beiden Seiten herab.
     Die grüne Kampfhose war ein wenig verblichen, aber frisch gewaschen und gebügelt, ohne jede Falte, und die Hosenbeine unten
     so in die Stiefel gesteckt, dass sie zwei Zentimeter darüber hingen, rundherum, als wäre dieser Überwurf mit dem Lineal vermessen.
     Die Jacke, im gleichenFarbton wie die Hose, saß eng und betonte den muskulösen Oberkörper. Am rechten Oberarm steckten vier Kugelschreiber in einer
     eigens dafür aufgenähten Tasche, und auf den Schulterklappen steckte ein Stoffüberzug mit einem silbernen Stern, der von stilisiertem
     Eichenlaub umfasst war. »Tarnung«, wiederholte er, als er die Blicke der beiden bemerkte, und ihm entging nicht, dass in Uwes
     Blick Bewunderung, in dem von Kerstin jedoch Abscheu mitschwang.
    »Zieh das an, dann gehen wir«, sagte er.

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    5
    Claptons Auftritt blieb eigentümlich blass gegenüber den beiden Vormusikern, und Dengler begann zu begreifen, dass er an diesem
     Abend auch den großen Unterschied zwischen Original und Kopie erlebt hatte. Die Zuschauer klatschten drei Zugaben heraus,
     und dann zog ihn die Menge aus dem riesigen Rund zum Ausgang zurück.
    Als er inmitten der euphorisierten Londoner zur Vorhalle trieb, erinnerte er sich: Als Kind hatte er selbst eine Mundharmonika
     besessen. Er brachte sich damals auf dem Instrument einige der Lieder bei, die im Radio der Mutter häufig zu hören waren: In München steht ein Hofbräuhaus gelang ihm ganz gut, aber am meisten Spaß machte es, auf dem Instrument die Töne rund um den Hof zu imitieren, Autohupen:
     auf den unteren beiden Löchern; Pferdeschnauben: Das war schon schwerer, er musste erst tief Luft holen, um dann mit aller
     Kraft in kurzen Intervallen auf dem zweiten und dritten Loch blasen; und das Blöken eines Kalbes gelang ihm so gut, dass sich
     die Kühe sogar nach ihm umdrehten, wenn er es auf dem mittleren Register blies.
    Er würde wieder Mundharmonika spielen, nicht mehr die kindlichen Melodien, sondern so, wie er es eben gesehen und gehört hatte
     und nie mehr vergessen würde.
    Die Besuchermenge zog immer noch hinaus in den Vorraum der riesigen Konzerthalle. Auf der rechten Seite verkauften fliegende
     Händler Platten

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