Die blaue Liste
Polizei!
« Neben Klein tauchte eine Frau aus dem Dunkel auf, knallte einen Autoschlüssel auf den Tisch und sagte: »Danke schön auch.
Ich habe die Sachen weggefahren.«
Und wandte sich wieder ab.
»Olga, bleib doch mal stehen. Setz dich und trink mit uns ein Glas. Das ist Georg Dengler, unser neuer Nachbar. Er wohnt unter
dir und neben mir.«»Ich trinke nicht mit der Polizei«, sagte sie.
Sie stand neben der Tür. Im Licht der Bar und der Dunkelheit der Straße erschien ihr Gesicht wie ein Mosaik aus Schatten und
Licht. Zwei schwarze Augen leuchteten Dengler spöttisch an, und auf ihrem Kopf loderte rotes Haar.
Wenn sie meine Wohnung durchsucht hat, hätte ich besser aufräumen sollen.
»Er ist doch kein Polizist mehr«, hörte er Martin Klein sagen, und er sah, wie Olga langsam und misstrauisch aus dem Zwielicht
trat.
Denglers Blick erfasste ihre Figur, ihre Schlankheit, die hochmütigen Brauen, den Pulli, der ihren Bauch, und die Jeans, die
einen Teil der Hüften freigab. Obwohl er nur ihre Haut vom unteren Rand des oliven Pullis bis zum Gürtel ihrer Jeans sah,
bestürzte ihn diese Nacktheit.
Der Wunsch hinzusehen und der Wunsch, die Augen zu senken, bekämpften sich. Schließlich wandte er den Blick ab, wie ein Eindringling
in ihrem privaten Raum, und sah doch wieder zu ihr, staunend, im Geist die Linien weiterdenkend, die an Olgas Hüfte ihren
Ausgang nahmen. Das Bedürfnis hinzusehen und das Bedürfnis wegzusehen verwickelten sich heillos ineinander, verwirrten ihn
und erzeugten in seinem Hirn ein eigentümliches Vakuum. Seine Blicke suchten ihren Bauchnabel, aber seine Wirrsal war so groß,
dass er sich nicht entscheiden konnte, ob er von ihrem Pulli oder den Jeans verdeckt wurde.
Nun erst registrierte er einen Verband an ihrer rechten Hand, der den Zeige- und den Mittelfinger verhüllte. Mit der linken
Hand zog sie an dem verbundenen Zeigefinger, als wolle sie ihn in die Länge strecken.
»Was haben Sie denn mit der Hand gemacht?«, fragte er, nur um irgendetwas zu sagen.
»Ist das ein Verhör?«, fragte sie, und Dengler ärgerte sich, dass er überhaupt den Mund aufgemacht hatte.
Statt ihrer antwortete ihm Klein: »Böse Sache. Gicht aneinem Finger; jetzt muss sie umschulen. Arbeitet sich gerade in die Computersachen ein.«
»Ich bin übrigens kein Polizist«, sagte Dengler.
»Und ist ein Privatdetektiv etwas Besseres?«, fragte sie.
In diesem Augenblick wusste Dengler, dass es Olga gewesen war, die seine Wohnung durchsucht hatte. Zu seinem Erstaunen spürte
er keine Empörung.
»Es ist etwas anderes«, sagte er.
[ Menü ]
8
Der nächste Tag verlief ohne besondere Ereignisse. Dengler kaufte sich ein neues Telefon und eine Espressomaschine, und er
hörte sich mehrmals die neue Platte von Buddy Guy an. Um vier Uhr nachmittags kam ein Handwerker und wechselte das Schloss
aus.
Am nächsten Morgen saß er bereits um sieben Uhr an seinem neuen Schreibtisch. Auf der rechten Seite der Arbeitsplatte rückte
er das tragbare Telefon zurecht, sonst war die Fläche leer.
Er war um sechs Uhr aufgestanden, hatte aufs Duschen verzichtet, um sich sofort den ersten Espresso mit der neuen Maschine
zuzubereiten. Dies erwies sich schwieriger als erwartet.
Er würde wohl noch einige Tage üben müssen.
Er saß eine Stunde regungslos und starrte auf die Holzimitation der grauen Plastikoberfläche.
Dann schaltete er das Radio ein. Das erste Programm des Südwestrundfunks sendete Hits der sechziger Jahre. You Really Got Me hämmerten die Kinks aus den beiden kleinen Boxen. Dengler wollte seine Konzentration nicht unterbrechen, und Rockmusik störte
ihn. Er drehte an dem größten der schwarzen Knöpfe und fand einen neuen Sender. Eine aufdringliche Stimme forderte ihn auf,
sich ein Seitenbacher-Müsli anzurühren. Dengler drückte den kleinen »Aus«-Knopf. Er schaltete den kleinen betagten Fernseher
an. Ein älterer Mann erschien, den die Einblendung des Frühstücksfernsehens als Sprecher der German Global Trust Bank auswies.
Die deutschen Unternehmen, sagte er, können nur dann wieder profitabel arbeiten, wenn die Politik Mut zu Reformen habe. Dazu
gehöre die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, und zwar auf dem Niveau der Sozialhilfe. Nun erschien eine Frau
auf dem Bildschirm, derUntertitel stellte sie als die Stuttgarter Abgeordnete Siegrid Berger vor. Dengler blickte für einen Augenblick interessiert
zum Gerät. Sie redete von Sozialabbau,
Weitere Kostenlose Bücher