Die blaue Liste
der mit der Sozialdemokratie nicht zu machen sei. Dengler schaltete ab. Radio wieder
an. Musik. Dann ein Beitrag über die Bedeutung des unbezahlten Ehrenamtes. Eine junge Journalistin berichtete, dass viele
Institutionen ohne die Hilfe ehrenamtlicher Helfer nicht überleben könnten. Sie seien die modernen Helden, sagte die Frau.
Musik. Nachrichten. Die erste Meldung unterrichtete von den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen den Vorsitzenden des
Deutschen Fußballbundes und früheren Chef des Stuttgarter VfB. Gerhard Mayer-Vorfelder wurde vorgeworfen, einen Teil der sechsstelligen
Summe, die er vom VfB für das Ehrenamt des Vorsitzenden erhalten hatte, nicht versteuert zu haben. Dengler schaltete das Radio
aus.
Das Telefon schwieg.
Eigentlich müsste ich meine Mutter anrufen, dachte er. Sie ist bestimmt schon lange auf. Auf dem Dengler-Hof gab es nun schon
seit vielen Jahren keine Kühe mehr. Seine Mutter hatte vor drei Jahren Hof und Stall in eine Pension umgebaut. Mittlerweile
fand sich ein Stammpublikum von Wanderern ein, die den Dengler-Hof als Ausgangspunkt für Schwarzwaldwanderungen wählten. In
einer halben Stunde erreichten sie bei Bärental den Westweg, auf dem sie über den Feldberg bis nach Basel laufen konnten.
Andere nahmen die Route zum Schluchsee, um in einem Rundweg am Abend wieder im Dengler-Hof mit Badischen Schäufele mit Kartoffelsalat,
Mamas Spezialität, bewirtet zu werden.
Es würde ein unangenehmes Telefonat werden. Er hatte seiner Mutter immer noch nicht gesagt, dass er das BKA verlassen hatte.
Sie wusste auch noch nicht, dass er nun in Stuttgart wohnte. Er erinnerte sich genau, wie sie weinte und vor Freude die Hände
zusammenschlug, als er ihr erzählte, er werde Polizist werden. Seit diesem Gespräch sah sie ihren Sohn im Öffentlichen Dienst
versorgt, und nie werde er sichmit den Geldsorgen einer kleinen Bauernfamilie beschäftigen müssen.
Er wusste, er sollte seine Mutter anrufen, aber als er an die unvermeidlichen Vorwürfe dachte, rührte er sich nicht. Er saß
still vor dem Telefon.
Nach einer Weile sah er auf die Uhr: halb neun. Vielleicht hat die Zeitung die falsche Telefonnummer abgedruckt. Leise ging
er durch den Flur des immer noch schlafenden Hauses und fischte sich die Stuttgarter Nachrichten aus dem Briefkasten. Noch auf dem Flur blätterte er durch den Anzeigenteil, bis er auf Seite 46 seine Anzeige fand. »Private
Ermittlungen« las er, die Telefonnummer stimmte.
Er erinnerte sich an ein Seminar, das alle Zielfahnder des BKA absolvieren mussten, als die Führung der Behörde ihnen Managementmethoden
beibringen wollte. Ein Typ mit Fönfrisur und der Gesichtsfarbe eines Mehlwurms stand im Seminarraum II und schrieb auf das
Flipchart: »Professionelles Telefonieren für Kriminalbeamte.«
Niemand war gerne in diese Veranstaltung gegangen. Zwei seiner ehemaligen Kollegen terminierten sogar eine völlig überflüssige
Festnahme auf den ersten Seminartag. Sie verhafteten ohne richterliche Anordnung einen ehemaligen Mitbewohner der Terroristin
Silke Meier-Kahn, die in Stammheim einsaß. Der völlig überraschte Mann, der sich als freier Programmierer durchschlug, wurde
vom Haftrichter sofort wieder freigelassen, doch die beiden Kollegen hatten ihr Ziel erreicht: Sie fehlten entschuldigt bei
dem Seminar. Sie hatten Georg sogar aufgefordert, sich an der Aktion zu beteiligen; schließlich war Silke Meier-Kahn früher
sein Fall gewesen. Doch er hatte abgelehnt. Georg Dengler erinnerte sich, dass er während des Vortrags des gefönten Seminarleiters
ständig darüber nachdachte, ob er nun an der Verhaftung eines Unschuldigen Mitschuld trage. Jetzt, als er nach vielen Jahren
wieder an dieses Ereignis dachte, überfiel ihn die Scham so frisch wie damals.Irgendwo mussten die Unterlagen aus diesem Seminar noch sein. Wahrscheinlich in einem der noch unausgepackten Umzugskartons.
Er ging ins Schlafzimmer und wuchtete den obersten Karton auf den Fußboden, dann kippte er zwei Bücherkartons aus und fand
den grauen Pappbehälter mit der Aufschrift »Bürosachen«. Mit einer schnellen Bewegung riss er das Klebeband ab. Ein Locher,
ein Tesaroller, zwei alte Notizbücher und eine gebrauchte Plastiktasse zog er hervor und warf alles auf den Boden. Endlich
hielt er den Ordner mit der Überschrift »Kriminalpolizeiliche Praxis – Erfolgreich telefonieren« vor sich. Er nahm den Ordner,
ging zurück ins Wohnzimmer, setzte
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