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Die blaue Liste

Die blaue Liste

Titel: Die blaue Liste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schorlau
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würde
     auch Heinz gerne gefallen, er wollte ihn nicht enttäuschen, aber er wusste, diese Enttäuschung war unausweichlich.
    Der muss doch irgendwann merken, dass ich das nicht bringe. Er wird es irgendwann mit mir aufgeben. Wird sich abwenden.
    Heinz zu enttäuschen – davor hatte Uwe Krems Angst, und diese Angst überwog bei weitem die Angst, erkannt zu werden als einer
     der meistgesuchten Männer des Landes, der jeden Morgen mit einem wahrscheinlich gestohlenen Jeep mitten in einen Truppenübungsplatz
     fährt und Schießübungen veranstaltet. Aber diese erste Angst, zu versagen und zu enttäuschen, die kennt er nur zu gut, die
     ist ihm vertraut. Wenn er sich die Mühe machen würde, sich zu erinnern, woher er diese Angst kennt wie einen alten Freund,
     würde er bemerken: Es ist die gleiche Angst, die er vor seinem Vater hatte, schon vor vielen Jahren, als der Vater den Sohn
     marschieren ließ, obwohl dieser noch nicht einmal zur Schule ging.
    »Komandoooo, links um«, schrie der Vater, und der Junge
    bemühte sich, es richtig zu machen; erst den linken Fuß drehen und dann den rechten Fuß in einem Bogen, nicht zu weit, folgen
     lassen.
    »Los, Komandoooo«, brüllte der Vater, und der Junge fiel um. »Und links, zwei, drei, nicht stampfen, marschieren, die Arme
     schwenken.«»Das kann doch nicht so schwer sein«, schrie der Vater, lief rot an, und Uwe schämte sich, weil er noch nicht einmal marschieren konnte.
    Der Vater machte es vor, und der Junge stolperte.
    »Lass doch den Bub, der ist doch viel zu klein«, sagte die Mutter und ging wieder in die Küche.
    Irgendwann spielte Uwe mit den kleineren Kindern aus dem Haus nebenan und beschimpfte sie, weil sie nicht marschieren konnten
     und weder »Komandoooo, links um« noch »die Augen links« hinbekamen, und schließlich liefen die Kinder heulend nach Hause.
     Als der Nachbar zu seinem Vater kam, um sich über Uwe zu beschweren, weil er mit den kleinen Kindern exerzierte, bekam Uwe
     die übliche Ration mit dem Gürtel.
    Später wurden seine halbjährlichen Zeugnisse eine regelmäßige Quelle der Scham. »Ausreichend« in Sport, für diese Note schämte
     er sich zutiefst, das »Gut« in Mathe und die besondere Belobigung in Musik und Deutsch konnten diese Vier nicht wettmachen.
     Er sah, dass sein Vater sich die Enttäuschung nicht anmerken lassen wollte, er gab ihm das Zeugnis mit künstlich unbeteiligtem
     Gesicht zurück, doch Uwe hatte den Weg seiner Augen genau verfolgt, die die beiden Spalten mit Zensuren nach der Sportnote
     absuchten, dann das unmerkliche Zucken. Er sah, wie der Vater sich zusammennahm und das Blatt auf den Küchentisch legte, um
     es kommentarlos zu unterschreiben.
    Und mit fünfzehn riss Uwe für zwei Tage aus, als er die Worte hörte, die er nicht hören sollte, weil sie allein für die Mutter
     bestimmt waren. Er glaubte ihnen sofort: »Er taugt nix, der Bub«, sagte der Vater in der Küche, und an dem dunklen Blupp hörte
     er, wie der Vater eine weitere Flasche Bier öffnete. Und er hörte seine Mutter seufzen.
    Ein Jahr später ließ ihn der Vater abends immer noch nicht aus dem Haus. Uwe wollte zum Rhein, nur runter zum Rhein, wo manchmal
     auch die Mädchen hinkamen. Undwieder stellte sich der Alte in dem dunklen Flur in den Weg und drohte mit Schlägen. Und da sagte Uwe ihm, dass er zurückschlagen
     werde. Der Alte lachte und schlug ihm ins Gesicht. Uwe aber rannte nicht mehr in sein Zimmer, wie all die Jahre, sondern schlug
     mit der Rechten, blind vor Wut und Aufregung, seinem Vater in den Solarplexus. Obwohl er nicht sonderlich gut gezielt hatte,
     traf er genau. Der Alte klappte zusammen und gab die Tür frei.
    Es war ein unvergesslicher warmer Altweibersommertag. Die Luft seidig und so leicht, dass er zum Rhein nicht hinunterrannte:
     Er schwebte – eingehüllt in ein unbekanntes Glück; und unten am Rhein erzählte er den Mädchen von seinen Plänen, dass er Musiker
     werden würde, zeigte ein Paar Riffs auf der Luftgitarre, und die Jungs lachten zustimmend und verlegen. Es war sein Abend.
     Nie wieder Sport.
    Seit diesem Tag zahlte er zurück.
    Er lässt sich die Haare stehen. Sie wachsen lang und länger, und mit jedem Zentimeter regt sich der Vater mehr auf. Als er
     schließlich akzeptiert, dass sein Sohn wie viele andere auch aussieht, schneidet sich Uwe die Frisur radikal kurz und lässt
     sich stattdessen einen Bart stehen. Die Musik aus seinem Zimmer ist für den Vater unerträglich: Pink Floyds Umma

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