Die blaue Liste
sieht den schmalen Lichtstreifen
unter Olgas Tür. Er würde gerne klopfen und traut sich erst, als er sie in einer unbekannten Sprache fluchen hört: Mâ ...
du-te-n pizda mâti!!
Klopf, klopf – ganz leise.
Sofort ist es still hinter der Tür, es geschieht nichts; und er hat sich schon wieder umgedreht, als die Tür einen Spalt geöffnet
wird, die gelbe Wärme einer Wandleuchte strömt in den dunklen Flur, und er sieht ihr Gesicht, in dem sich wieder Licht und
Schatten spiegeln.
»Ach, Sie sind es.«
»Ich habe keinen besonderen Grund ... ich sah das Licht an Ihrer Tür und ...«
»Und hörten mich fluchen«, half sie ihm.
»Genau«, sagte er, erleichtert.
»Kommen Sie rein – wenn Sie wollen.«
Sie ging in den Raum zurück und ließ die Türe offen.
Er folgte ihr.
Wie sollte er es ihr sagen? Ich kenne Ihr Geheimnis. Sie sind eine Diebin, aber machen Sie sich deswegen keine Sorgen.
Wie sagt man so etwas?
»Was möchten Sie hören?«, fragte sie aus dem Nebenzimmer.
»Irgendetwas mit Saxophon.«
»Coltrane?«
»Perfekt!«
Olga kam mit zwei Gläsern Rotwein aus der Küche zurück, er sah, dass sie keinen Verband trug. Er nahm ihr beide Gläser ab,
stellte sie aufs Fensterbrett und nahm ihre rechte Hand.
»Sind Sie auch als Handleser tätig?«
»Nur in meinem Zweitjob.«
Er fuhr mit der Kuppe seines Zeigefingers ihren Mittelfinger entlang, bis er neben ihrem Zeigefinger auf seiner linken Handfläche
lag. Beide waren gleich lang.»Sie müssen die Hand umdrehen, wenn Sie mir wahrsagen wollen«, sagte sie.
»Nein, ich weiß schon genug.«
»Was wissen Sie?«
Er fuhr mit dem Finger über das mittlere Gelenk ihres Zeigefingers; es war knotig ausgebuchtet.
»Schmerzt es sehr?«
Sie nickte.
»Ihr zweiter Finger ist genauso lang wie Ihr Mittelfinger«, sagte er sanft, »ab welchem Alter wurde er gedehnt?«
Sie lehnte sich an ihn, ganz leicht, und er hörte auf zu atmen, um sie nicht zu verscheuchen.
»Seit ich denken kann«, sagte sie.
»Und nun können Sie keine Diebin mehr sein?«, fragte er. Sie schüttelte den Kopf.
»Ich führte ein wunderbares Leben. Immer, wenn ich Geld brauchte, lief ich durch die Lobby eines großen Hotels, einmal hin
und einmal zurück, und das brachte genug ein, um zwei oder drei Monate in Ruhe zu leben. Und wenn mein Geldbeutel leer war,
suchte ich mir ein neues Luxushotel.«
»Und Sie sind nie erwischt worden.«
Sie schüttelte noch einmal den Kopf.
»Ich bedenke vorher immer einen Fluchtweg, aber ich muss-te noch nie fliehen. Meine rechte Hand ist darauf spezialisiert,
schnell in fremde Jacketttaschen zu schlüpfen und unbemerkt die Brieftasche herauszunehmen. Etwas anders habe ich in meinem
Leben nicht gelernt.«
»Und nun?«
»Nun kann ich es kaum mehr machen. Der Zeigefinger schmerzt so sehr, wenn ich eine Brieftasche ... Sie wissen schon .., dass
ich am liebsten laut schreien möchte. Ich werde immer langsamer, und bestimmt werde ich nun irgendwann geschnappt.«
Dengler nickte. »Deshalb schulen Sie nun auf Computer um?
Hat mir Martin Klein erzählt.«»Ach, Martin, er ist ein großes Klatschmaul, aber ein netter
Kerl. Ja, ich beschäftige mich mit Computern und Software
und diesen Sachen. Ich habe einen guten Lehrer, der an der
Uni in Hohenheim Informatik unterrichtet.«
»Der Typ mit der schwarzen Lederkleidung und den langen
Haaren?«
»Genau, Sie haben ihn im Basta gesehen.«
»Und ich mochte ihn nicht.«
»Nein, warum nicht?«
»Ich glaube, ich war eifersüchtig.«
Sie lachte leise und nippte an dem Glas.
»Das ist die Nacht der Geständnisse, scheint mir.«
Dengler nahm einen Schluck Rotwein. Seine Trunkenheit
stand ihm im Weg. Er sah sie vor sich, wie sie ihn anschaute,
und er wusste, dass er sie in den Arm nehmen konnte, wenn
er die wenigen Schritte zu ihr schaffte. Vorsichtig setzte er
den rechten Fuß nach vorne.
»Kommen Sie, ich helfe Ihnen«, sagte Olga. Sie lächelte, als
sie auf ihn zuging.
* * *
Als er aufwachte, wusste er sofort, dass sich etwas Wichtiges geändert hatte, aber ihm fehlte die genaue Vorstellung darüber,
was es war. Der Raum, in dem er sich befand, war völlig dunkel, doch wenn er nach links sah, erkannte er ein winziges grünes
und etwas darüber ein ebenso kleines rotes Licht.
Er konnte noch nicht nachdenken. Die Kopfschmerzen zogen von der linken Schläfe eine hämmernde Spur zum Hinterkopf. Er horchte
auf die bohrenden Intervalle und rührte sich nicht. Sein Mund war
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