Die blaue Liste
flüsterte Christiane Stein.
Dengler sah in ihre maritimfarbenen Augen und nickte.
»Finden Sie meinen Vater«, wiederholte sie.
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31
Paul Stein zog kaum merklich das rechte Bein nach, als er die wenigen Schritte von der Tür bis zum Pult hinaufstieg. Das Manuskript,
es waren nur wenige Seiten, trug er in der rechten Hand, die Blätter wie kostbares Gut an den Leib gepresst. Er blickte sich
um. Merkwürdig, bei dieser Vorlesung ist der Seminarraum immer voll. Diesmal saßen einige der Studenten sogar auf den Treppen
zwischen den beiden größeren Sitzreihen. Stein sah die bereitgelegten Schreibblöcke und blickte in erwartungsvolle Gesichter.
Es hatte sich schnell herumgesprochen, dass dies keine gewöhnliche Vorlesung war.
Behutsam legte er die Blätter vor sich aufs Pult. Noch einmal sah er die Studenten an, und dann las er:
»Um zehn Uhr abends stürmte die Bereitschaftspolizei die Fabrik. Nach kurzem symbolischen Widerstand verließen die Arbeiter
im gleißenden Licht der Scheinwerfer das Werksgelände. Kameraleute und Pressefotografen belagerten die zweifache Absperrung,
um den historischen Augenblick für die Massenmedien einzufangen: den Sieg der rechtsstaatlichen Ordnung über die organisierte
Anarchie. Denn die Arbeiter der Uhrenwerke ›Lip‹ in Besançon, der Geburtsstadt des Sozialanarchisten Proudhon (›Eigentum ist
Diebstahl‹), hatten an Grundfesten gerüttelt: Sie bemächtigten sich einer ganzen Fabrik und führten sie selbst.«
Paul Stein wartete einen Moment, bis sich bei den Studenten die Einleitung gesetzt hatte; sie waren alle viel zu jung, um
sich an die Auseinandersetzungen um das willkürlich geschlossene Uhrenwerk in den französischen Alpen zu erinnern.
Dann fuhr er fort:
»Was in Frankreich in die Knie gehen musste, funktioniert in Österreich seit über zwanzig Jahren; eine Fabrik mit 145 Beschäftigten
im Vollbesitz der Arbeitnehmer: das Gerätewerk Matrei.«
Jetzt schauten sie ihn wach und interessiert an. Er legte das Manuskript beiseite und erzählte ihnen von den Anfängen des
Werkes. In Matrei an der Brennerstraße, weniger als eine Fahrstunde von diesem Vorlesungssaal entfernt, hatte das Dritte Reich
eine Karbidproduktion betrieben. Das Werk war ein kriegswichtiger Betrieb – Karbid ist ein Grundstoff für die Munitionsfabrikation.
Als die deutsche Betriebsführung kurz vor der Kapitulation das Weite gesucht hatte, war das Unternehmen herrenlos. Die Arbeiter
lungerten herum und wussten nicht, was sie tun sollten. Als einer von ihnen darüber zu sprechen anfing, was man in der leer
stehenden Fabrik alles produzieren könne, hörten die anderen zu. Schließlich sagte ein zweiter: »Den Gewinn teilen wir untereinander
auf«, und alle schlugen ein.
Dann erzählte Stein den Studenten von den schwierigen Anfängen, von vielen tausend unbezahlten Arbeitsstunden, dem häufigen
Verzicht auf Lohn und Gehalt, davon, dass die Männer sich die Maschinen und die Anlagen selbst bauen oder irgendwie ausleihen
mussten. Sie produzierten nun keine Rüstungsmaterialien mehr, sondern etwas, das in Österreich Mangelware war: Kochplatten.
Hinzu kamen rechtliche Probleme. Die Arbeiter wählten die Rechtsform einer Genossenschaft, die jedoch in keinem Gesetzbuch
stand, und erst am 15. Oktober 1948 übernahm die »Experimentalgenossenschaft« endgültig das Eigentum an den herrenlosen Hallen:
Der Hohe Kommissar der Republik Frankreich trug die »Gerätewerk Matrei-Genossenschaft mit beschränkter Haftung« in das Handelsregister
ein.
Stein fuhr fort:
»Heute sind die Arbeiter von Matrei Eigentümer eines erstklassigen Mittelbetriebes zur Herstellung von Kochplatten,Lufterhitzern, Nachtstromspeichern, Brutkästen und Werkzeugen. Und sie beliefern Siemens, Schott und AEG.«
Er sah im Saal umher und wusste, die Studenten hörten ihm immer noch aufmerksam zu. Er erläuterte ihnen: Diese kleine Fabrik
sei für die politische Ökonomie von größter Bedeutung, denn die Tiroler Arbeiter widerlegten seit Kriegsende einige der gängigsten
Dogmen des Faches.
Paul Stein blätterte in seinem Manuskript.
• Das Dogma, dass es eine Eigentümer persönlichkeit geben muss, um eine Firma hochzubringen.
• Das Dogma, dass ein Arbeiter, der mit seiner Stimme auf die Geschäftspolitik Einfluss hat, sich anmaßen würde, über Dinge
zu entscheiden, die er nicht versteht.
• Das Dogma, dass die Mitbestimmung vieler am wirtschaftlichen Schicksal
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