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Die blaue Liste

Die blaue Liste

Titel: Die blaue Liste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schorlau
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eines Unternehmens zum Chaos führen muss.
    • Das Dogma, dass Arbeitnehmer als Arbeitgeber die Investitionen zugunsten der Gehälter vernachlässigen würden.
    Die Studenten schrieben eifrig mit. Stein wusste, dass das für die angehenden Wirtschaftswissenschaftler ein harter Brocken
     war. Trotzdem entsprach alles der Wahrheit. Sein Lehrstuhl untersuchte das Gerätewerk seit einigen Jahren, und er hatte nachgewiesen,
     dass die Investitionen in dem Werk 7 bis 15 Prozent über dem österreichischen Durchschnitt lagen. Damit war das von den Arbeitern
     geleitete Werk eines der bestgeführten österreichischen Unternehmen.
    Ein Finger aus der vorletzten Reihe schnellte nach oben. Eine dickliche Studentin, die sich schwerfällig auf die Bank stützte,
     fragte:
    »Bestimmt sind die Kommunisten die treibende Kraft bei dieser Sache?«
    »Nein«, antwortete Stein, »von allen Parteien steht die KPÖ dem Projekt am ablehnendsten gegenüber. Im Betrieb gibt es, soweit
     ich weiß, keinen einzigen Kommunisten. Und mirwurde gesagt, dass der einzige KPÖ-Wähler im Ort vor einiger Zeit verzogen sein soll.«
    Die Studenten lachten, und die dicke Studentin in der vorletzten Reihe schrieb seine Antwort auf.
    Stein legte noch einmal nach: »Wenn Sie sich das Statut der Genossenschaft genau anschauen, werden Sie sehen, dass es sich
     bei diesem Modell nicht um die Schaffung von anonymem Massenbesitz handelt, sondern durchaus um persönliches Eigentum. Jeder
     Einzelne ist konkreter Eigentümer mit konkreten Mitspracherechten. Ich bin davon überzeugt, dass diese Form verantwortungsbewusste,
     selbstbewusste und selbstständige Menschen heranbildet, die sich nicht für irgendeine Diktatur missbrauchen lassen.« Nachdenklichkeit
     bei den Studenten.
    »Was machen die Leute denn mit den Gewinnen?«, fragte ein hoch aufgeschossener junger Mann, der trotz der angenehmen Temperatur
     im Saal mit hochgeschlagenem Kragen in der Vorlesung saß.
    Der Mann am Pult erzählte noch einmal von den Anfängen der Fabrik: Die Arbeiter gingen nicht vom maximalen, sondern vom notwendigen,
     zunächst hart an der Grenze der Rentabilität gehaltenen Gewinn aus. Damit gelang es ihnen, Marktanteile zu erzielen. Doch
     stiegen die Gewinne von Jahr zu Jahr, und die Beschäftigten verwendeten sie zum eigenen Wohle, statt sie zum Nutzen eines
     einzigen Eigentümers abzuführen. Die Überschüsse werden in Wohnungen angelegt und in Sonderzahlungen, sodass das Gehaltsniveau
     im Gerätewerk deutlich über dem allgemeinen österreichischen, wahrscheinlich sogar europäischen Niveau liegt.
    »Wird das Modell von den Gewerkschaften oder anderen politischen Parteien unterstützt oder propagiert?«, fragte ein junger
     Mann in einem hellbeigen T-Shirt mit der Aufschrift »Red Socks«. Paul Stein wusste nicht, wie er diesen Aufdruck verstehen
     sollte.
    »Die Gewerkschaften sind an dem Modell nicht weiterinteressiert, da es in Matrei keinen Betriebsrat gibt. Die Mitarbeiter sind Eigentümer und klären alle notwenigen Fragen auf
     den entsprechenden Versammlungen der Genossenschaft. Auf diesen Versammlungen besitzt jeder Teilnehmer eine Stimme, egal welche
     Funktion er im Betrieb hat ..«
    Er stockte. Nun musste er aufpassen, dass er die Frage nicht vergaß, dass er nicht ins Schwärmen geriet, sondern bei all seiner
     Begeisterung wissenschaftlich nüchtern blieb.
    »Die einzige Institution, die das Projekt unterstützt, ist das Bistum Innsbruck. Und das aus gutem Grund. In diesem kleinen
     Werk ist im Grunde die katholische Soziallehre perfekt verwirklicht. Arbeit und Kapital sind nicht mehr feindlich getrennt,
     sondern gehören zusammen. Das Werk gehört weder einem einzelnen egoistischen Kapitalisten noch einer anonymen Bürokratie,
     die beide die Arbeiter auf ihre jeweils unterschiedliche Art ausbeuten.«
    Und Stein berichtete von seinen Aufenthalten im Werk, den Gesprächen mit den Mitarbeitern, die sehr sorgsam ihre Mitspracherechte
     wahrnahmen.
    »Kann man das Modell Matrei auf andere Bereiche übertragen?«, fragte Jan Moser, der beste Student im Semester.
    »Ja.«
    Er nickt zu Jan Moser, als bedanke er sich für diese Frage. Der junge Mann dachte in größeren Zusammenhängen und bereitete
     sicher schon die Frage vor, die im Raume stand. Aber Paul Stein wollte sie heute nicht beantworten. Sie würden heute Nachmittag
     mit dem Chef des Instituts und einigen Kollegen darüber reden.
    Er legte lieber noch einen kleinen Umweg ein und sagte: »Sie

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